Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns
konnte, behielt er sein prozedurales Gedächtnis, das er durch Übung unbewusst stärken konnte.
In neuerer Zeit zog sich ein Dirigent namens Clive Wearing eine verheerende Form der Herpes-simplex-Enzephalitis zu, die sein Gehirn schwer beeinträchtigte und seinen Hippocampus zerstörte. Genau wie Molaison konnte Wearing keine neuen deklarativen Erinnerungen mehr abspeichern, sodass die Welt für ihn ständig neu war. Er erkannte seine Kinder nicht und jedes Mal, wenn er seine Frau sah, mit der er seit Jahren verheiratet war, fühlte er sich, als würde er sich neu verlieben. Seine Frau Deborah schrieb ein Buch über seinen Fall, das den passenden Titel Gefangen im Augenblick trägt. Darin schreibt sie: »Clive hatte ständig den Eindruck, gerade erst aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht zu sein, weil es in seinem Kopf keine Evidenz dafür gab, dass er zuvor jemals wach gewesen wäre.« Wearing, der selbst ein produktiver Schriftsteller war, führte detaillierte Tagebücher. Anstatt sie jedoch mit Erkenntnissen oder Humor zu füllen, schrieb er ständig Folgendes:
»8:31 Uhr: Jetzt bin ich wirklich völlig wach.
9:06: Jetzt bin ich absolut, überwältigend wach.
9:34: Jetzt bin ich unübertrefflich, tatsächlich wach.«
Deborah zitiert ihren Mann: »Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist, als sei ich tot.«
Auch wenn mein Fall glücklicherweise nicht so schwerwiegend war wie die genannten, hatte auch ich Schlüsselelemente meiner Hirnfunktionen eingebüßt. Dennoch bereiteten mir bestimmte Kleinigkeiten Freude: Ich freute mich auf die langsamen, wackeligen Spaziergänge, mit denen ich die täglichen Spritzen umgehen konnte, die bei bettlägerigen Patienten erforderlich sind, um der Bildung einer Thrombose vorzubeugen. Daneben hatte ich zwei Manien: Äpfel und Sauberkeit. Immer wenn mich jemand fragte, was ich gerne hätte, antwortete ich: »Äpfel.« Ich äußerte ständig den Wunsch danach, sodass jeder, der mich besuchte, Äpfel mitbrachte: grüne, rote, säuerliche, süße. Ich verschlang sie alle. Ich weiß nicht, was diese Fixierung auslöste; vielleicht das metaphorische Verlangen gemäß dem Sprichwort »Have an apple a day, and keep the doctor away« [Ein Apfel pro Tag erspart den Arzt]. Vielleicht war das Verlangen aber auch elementarer: Äpfel enthalten Flavonoide, die im Körper entzündungshemmend und antioxidativ wirken. Teilte mein Körper damit etwas mit, was mein Gehirn – und meine Ärzte – noch nicht erkannt hatten?
Ich bestand auch darauf, dass meine Kleidung täglich gewechselt und gewaschen wurde. Meine Mutter glaubte, dies sei die unbewusste Sehnsucht gewesen, meinen Körper von der Krankheit zu befreien, was auch immer diese war. Ich bat das Personal inständig, mich zu duschen, auch wenn mein Haar verfilzt auf der Kopfhaut liegen bleiben musste wegen der ständig dort angebrachten EEG-Kabel. Zwei jamaikanische Schwesternhelferinnen wuschen mich mit feuchten warmen Waschlappen, zogen mich an und nannten mich liebevoll »mein Baby«. Unter ihrer Pflege entspannte ich mich. Mein Vater, der meine Zufriedenheit bei diesen Waschungen beobachtete, überlegte, ob der Akzent der Schwesternhelferinnen mich vielleicht in meine Kindheit zurückversetzte, als Sybil wie eine zweite Mutter für mich gesorgt hatte.
An diesem ersten Samstag ließen meine Eltern eine neue Besucherin zu mir, meine Cousine Hannah. Obgleich Hannah schockiert war von dem, was sie bei ihrer Ankunft sah, kam sie in mein Zimmer und setzte sich ganz selbstverständlich neben mich. Dort im Zimmer, zusammen mit meiner Mama und Stephen, schien sie sich sofort zu Hause zu fühlen, war ruhig, unaufdringlich und unterstützend.
»Susannah, das ist noch für deinen Geburtstag. Wir hatten es ja nicht geschafft, uns zu sehen«, sagte sie heiter und reichte mir ein eingewickeltes Geschenk. Ich schaute sie mit starrem Lächeln verständnislos an. Hannah und ich hatten im Februar geplant gehabt, meinen Geburtstag nachträglich zu feiern, ich hatte die Verabredung jedoch wegen der »Mono«, die ich meinte mir zugezogen zu haben, abgesagt.
»Danke«, sagte ich. Zögernd beobachtete Hannah, wie ich kraftlos, mit halb geschlossenen Fäusten nach dem Geschenk griff. Ich hatte nicht einmal mehr die Geschicklichkeit, das Geschenkpapier zu öffnen. Meine körperliche Langsamkeit und mein unbeholfenes Sprechen erinnerten Hannah an einen Parkinson-Patienten. Behutsam nahm sie mir das Päckchen ab und
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