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Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Titel: Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susannah Calahan
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da ich noch immer nicht regelmäßig aß. Mein Vater war damit aufgewachsen, seiner Mutter, einer irischen Krankenschwester, zuzusehen, wie sie zwischen zwei Dienstschichten in der Notaufnahme auf die Schnelle raffinierte Speisen zubereitete, und genau wie sie konnte er beim Kochen abschalten. Es half also nicht nur mir durch diese Tage im Krankenhaus, sondern auch ihm, sich neben der Trostlosigkeit auf etwas anderes zu konzentrieren.
    Meine Mutter kam in ihrer Mittagspause und nach der Arbeit, um nach mir zu sehen, wobei sie immer getreu ihre Fragenliste bei sich trug. Häufig starrte sie aus dem Fenster auf den East River und sah den Booten zu, die an der Pepsi-Cola-Leuchtreklame von Long Island City vorbeifuhren, wobei sie ihre Hände rang – eine nervöse Angewohnheit – und sich in der Aussicht verlor. An den meisten Tagen schauten wir uns das Spiel der New York Yankees an und sie informierte mich kurz darüber, was mit unseren Lieblingsspielern geschah. Meist jedoch saß sie neben mir und achtete darauf, dass ich es bequem hatte und vor allem, dass die besten Ärzte regelmäßig nach mir schauten.
    Stephen kam gegen 19 Uhr und blieb, bis ich gegen Mitternacht einschlief. Das Pflegepersonal duldete das, auch wenn die Besuchszeit dann längst vorüber war, weil sein beruhigender Einfluss dafür sorgte, dass ich keinen Fluchtversuch unternahm. Jeden Abend schauten Stephen und ich eine 25-minütige DVD von Ryan Adams beim Austin City Limits an, die als Endlos-Wiederholung lief. Er ließ die DVD laufen, wenn er nach Hause ging, wobei die Alternative-Country-Songs »A Kiss Before I Go«, »A Hard Way to Fall« und andere immer und immer wieder wie durchdringende Schlaflieder spielten, bis eine Nachtschwester den Fernseher abstellte, wenn sie sah, dass ich eingeschlafen war. Stephen dachte, die Musik könne irgendwie helfen, mich zurückzuholen.
    Stattdessen war es so, dass ich die DVD jedes Mal anschaute, als sei es das erste Mal. Mein Kurzzeitgedächtnis war ausgelöscht, ein Problem, das in der Regel im Hippocampus verwurzelt ist, einer Art Zwischenstation für neue Erinnerungen. Der Hippocampus »lagert« die Neuronenmuster, die eine Erinnerung bilden, kurzzeitig, bevor er sie zu den Arealen im Gehirn weiterschickt, die für deren Langzeitaufbewahrung zuständig sind. Erinnerungen werden von den Gehirnarealen bewahrt, die für die ursprüngliche Wahrnehmung zuständig waren: Eine visuelle Erinnerung wird von der Sehrinde im Okzipitallappen gespeichert, eine akustische Erinnerung vom auditiven Kortex des Temporallappens und so weiter.
    Um zu verstehen, wie wichtig der Hippocampus für den Schaltkreis des Gehirns ist, müssen Sie nur bedenken, was passiert, wenn er entfernt wird wie in dem berühmten Fall des Patienten, der in der medizinischen Welt als »H. M.« bekannt wurde. 1933 wurde der siebenjährige Henry Gustav Molaison in der Nähe seines Elternhauses in Hartford in Connecticut von einem Fahrrad angefahren und war bewusstlos. Nach diesem verhängnisvollen Unfall litt er immer wieder unter Krampfanfällen, deren Intensität zunahm, bis sein Arzt an seinem 27. Geburtstag 1953 beschloss, ihm den Teil des Gehirns zu entfernen, der für die Anfälle verantwortlich zu sein schien: den Hippocampus. Nachdem sich Henry Molaison von der Operation erholt hatte, waren die Anfälle tatsächlich vorbei, er hatte jedoch auch die Fähigkeit verloren, sich zu erinnern. Der Arzt stellte fest, dass seine alten Erinnerungen bis zwei Jahre vor der Operation noch intakt waren, er jedoch keine neuen Ereignisse mehr als Erinnerung abspeichern konnte. Jede neue Information konnte er kaum 20 Sekunden behalten, dann war sie verschwunden. Henry Molaison wurde über 80 Jahre alt, empfand sich jedoch immer als jungen Mann Mitte 20, also in dem Alter vor seiner Operation.
    Seine einmalige erschreckende Situation machte ihn zu einer der berühmtesten medizinischen Studienpersonen der Geschichte und half Forschern, die Existenz der anterograden Amnesie zu bestätigen, der Unfähigkeit, neue Dinge im Gedächtnis zu behalten. (Der Film Memento hat Henry Molaison zum Vorbild.) Sein Fall bewies auch die Existenz zweier unterschiedlicher Gedächtnistypen: einem deklarativen Gedächtnis (Ort, Namen, Gegenstände, Fakten und Ereignisse) und einem prozeduralen Gedächtnis (Dinge, die gewohnheitsmäßig erlernt werden wie das Binden von Schuhen oder das Fahrradfahren). Obgleich Henry Molaison keine neuen deklarativen Erinnerungen abspeichern

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