Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns
eigentlich definierte?
An dem Nachmittag, an dem ich diesen Tagebucheintrag geschrieben hatte, ging ich die Viertelstunde von zu Hause ins Stadtzentrum von Summit, um meine Selbstständigkeit zu spüren und mich etwas zu bewegen. Obwohl meine Schienbeine beim Gehen schmerzten, bestand ich darauf, den Ausflug in die Stadt alleine zu unternehmen. Als ich eine Pause einlegte, starrte mich ein Mann, der gerade Rasen mähte, an. Instinktiv legte ich eine Hand auf den kahlen Fleck, um ihn vor seinem Blick zu verbergen; als meine Hand jedoch meinen Kopf berührte, merkte ich, dass ich ein Stirnband trug. Wo zum Teufel glotzte er also hin? Später dämmerte es mir: Er hatte mich einfach nur taxiert. Sicher, ich hatte schon mal besser ausgesehen, aber ich war noch immer eine Frau. Vorübergehend kurbelte diese Erkenntnis den noch vorhandenen Rest meines Selbstbewusstseins an.
Ich beschloss, einen Spinning-Kurs zu belegen, um etwas gegen mein »Fettschwein«-Syndrom zu unternehmen, und fand mich auf einem Fahrrad neben meiner Hockeytrainerin von der Highschool wieder, die zu mir herüberschaute und versuchte, mich einzuordnen. Ich mied ihren Blick, wendete den Kopf nach rechts, aber dort sah ich zwei jüngere Mädchen von der Highschool, die auch auf Spinning-Rädern saßen. Ich überlegte, ob sie insgeheim darüber lachten, wie dick ich war, und ob sie kicherten, weil ich wieder bei meinen Eltern wohnte. Ich empfand große Scham, konnte damals den genauen Grund dafür aber noch nicht benennen.
Heute denke ich, dass diese Scham aus dem heiklen Balanceakt zwischen der Angst vor einem Verlust und dem Akzeptieren eines Verlustes entsprang. Ja, ich konnte wieder lesen und schreiben und To-do-Listen führen, aber ich hatte mein Selbstvertrauen und Selbstempfinden verloren. Wer bin ich? Bin ich ein Mensch, der sich voller Angst hinten in einen Spinning-Kurs duckt und die Blicke der anderen meidet? Diese Unsicherheit darüber, wer ich bin, diese Verwirrung darüber, wo ich im zeitlichen Verlauf meiner Krankheit und meiner Genesung nun wirklich stand, war letztlich die tiefere Quelle von Scham. Ein Teil meiner Seele glaubte, ich würde nie wieder ich selbst sein, die sorglose, selbstbewusste Susannah.
»Wie geht es dir?«, fragten mich die Leute weiterhin.
Ja, wie ging es mir? Ich wusste nicht einmal mehr, wer »ich« überhaupt war.
Nachdem meine kleine Wohnung leer geräumt war, brachte ich meine ganze ungelesene Post mit nach Hause, öffnete sie jedoch erst Wochen später. Unter den Stapeln von Rechnungen und Werbepost fand ich einen braunen Umschlag von der Praxis, in der mein erstes MRT gemacht worden war, bevor ich im März stationär im Krankenhaus behandelt wurde. In dem Brief war mein lange vermisster, goldener Hämatitring. Mein Glücksring.
Manchmal überreicht uns das Leben genau in dem Moment, in dem wir es wirklich dringend brauchen, mit einer kleinen Verbeugung ein sinnbildliches Geschenk. »Wenn du denkst, alles sei verloren, kommen Dinge, die du am meisten brauchst, ganz unerwartet zurück.«
10 Test zur Aufnahme an einer US-amerikanischen Graduate School (Anm. d. Red.)
Kapitel 43
NDMA
M it der immer weiter fortschreitenden Wiederherstellung meiner früheren Gehirnfunktionen und Persönlichkeitszüge, und als ich mich wieder stärker in die Welt integriert fühlte, gewöhnte ich mich daran, dass die Leute mich über die seltene und faszinierende Krankheit ausfragten. Ich versuchte jedoch nie, es persönlich zu artikulieren, sondern griff auf die Erklärung zurück, die ich von meinen Eltern so oft gehört hatte: »Mein Körper hat mein Gehirn angegriffen.« Als jedoch Paul, mein Redakteur bei der Post , mir schrieb und bat, ich möge ihm die Krankheit erklären, beschloss ich schließlich zu versuchen, das, was mit mir geschehen war, zusammenzufassen. Dies erschien mir als eine gute Mission und ich fühlte mich zum ersten Mal der Aufgabe gewachsen, den Versuch einer Antwort zu wagen.
»Wir möchten, dass du wiederkommst!«, schrieb Paul mir. »Oh Gott, das klingt ja wie Jackson Five. Also was genau hast du?«, las ich in seiner E-Mail. Es fühlte sich merkwürdig, aber auch tröstlich an, eine Stimme aus der Zeit vor meiner Krankheit zu hören: Mein Leben war nun geteilt in »vor« und »nach« der Krankheit, wie dies nie zuvor gewesen war. Ich war entschlossen, ihm eine Antwort zu geben.
»Wie heißt noch mal meine Krankheit?«, rief ich meiner Mutter zu.
»NMDA-Autoimmun-Enzephalitis«, rief sie
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