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Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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die Brille noch nicht lange trug. Wahrscheinlich hatte sie einem gefallenen Familienmitglied gehört. »Als wir den Umweg über Cottbus gemacht haben und dort vor dem Bahnhof standen, habe ich gesehen, wie sie eine Frau aus dem Zug getragen haben. Sie war tot. Wahrscheinlich hat sie auch die trockene Luft nicht vertragen.«
    Will hielt sich am Türrahmen fest und kniff die Augen zusammen, bis der fremde Erinnerungsfetzen verblasste. Es war nicht das erste Mal, dass ihn das Bruchstück einer vergangenen Szene wie ein Blitz aus heiterem Himmel durchzuckte, die überhaupt nichts mit ihm selbst oder alten Familiengeschichten zu tun hatte, aber heute war es anders, so lebendig gewesen, dass er den Geruch nach Angstschweiß, Essensresten, dem Rauch der Dampflokomotive und Schlimmerem noch in der Nase zu haben glaubte, der in dem alten Dritte-Klasse-Abteil der Reichsbahn vorgeherrscht hatte …
    »Was ist?«, rief Falkenberg ungeduldig. »Brauchen Sie nun Hilfe oder nicht?«
    Will fügte der Liste von Beleidigungen, mit denen er Falkenberg in Gedanken belegt hatte, zwei oder drei weitere Begriffe hinzu und räusperte sich künstlich. Duffy hob den Kopf. Sie sah ihn zwar an, aber da war etwas in ihrem Blick, das ihn zutiefst erschreckte. Die unheimliche Leere war aus ihren Augen verschwunden, aber für einen Moment wünschte er sie sich fast zurück. In Duffys Augen schien etwas wie – Will fand einfach kein anderes Wort dafür – schwarzes Feuer zu brennen, eine lodernde Glut, unsichtbar, aber von einer so verzehrenden Kraft, dass Will –auch ganz konkret körperlich – davor zurückprallte. Für einen winzigen, dennoch durch und durch schrecklichen Moment glaubte er sich in den Keller der niedergebrannten Villa zurückversetzt, und möglicherweise spielte ihm seine Fantasie damit einen böseren Streich, als sie beabsichtigt hatte, denn er sah nicht nur wieder das unheimliche Feuer in Duffys Augen, er spürte auch wieder die Anwesenheit jenes anderen, weit machtvolleren Feuers, der alles verzehrenden, zerstörerischen Urkraft, lauernd unter der erkalteten Oberfläche des Steins, den er flüchtig mit der Hand berührt hatte. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, und wenn doch, dann würde er Flammen atmen, sengendes Feuer, das seine Lungen verbrennen und sein Fleisch zu Schlacke zusammenschmelzen musste, und seine Fantasie spielte ihm noch einen viel übleren Streich, denn für jenen winzigen Zeitraum, der zwischen einem Blinzeln und dem nächsten verging, sah er Duffys Gesicht von einem Kranz gleißender Flammen eingerahmt, ein loderndes Fanal der Vernichtung, wie die blitzartige Vision einer Zukunft, die niemals eintreten durfte.
    Dann blinzelte er, und das Trugbild war ebenso verschwunden wie das schwarze Feuer in Duffys Augen. Natürlich war es das. Es war ebenso wenig real gewesen wie die unheimliche Vision. Seine Fantasie lief Amok, das war alles.
    »Was willst du?«, fragte Duffy unfreundlich. Weniger ihre Worte als vielmehr die Art, wie sie sie aussprach, ließ in Will das ungute Gefühl aufkommen, dass sie diese Frage vielleicht nicht zum ersten Mal stellte.
    »Zieh dich bitte an«, antwortete Will, unbeholfen und in einem Ton, der seinem Bemühen, ein verlegenes Räuspern zu unterdrücken, eine lange Nase drehte. »Die beiden werden langsam ungeduldig, weißt du?«
    »Du hast mich verraten«, sagte Duffy. In ihrer Stimme war kein Vorwurf oder Zorn. Es war eine Feststellung, mehr nicht, und obwohl ihre Behauptung ganz und gar falsch war, trafen ihn ihre Worte wie winzige Pfeile, die nicht wirklich wehtaten, aber ein schleichendes Gift in seine Seele injizierten.
    »Das habe ich nicht«, antwortete er. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es wie eine Lüge, obwohl es keine war.
    »Und wo kommen die beiden dann so plötzlich her?«
    »Das weiß ich nicht«, erwiderte Will – was nicht der Wahrheit entsprach. Aber er hatte wirklich keine Lust, Duffy jetzt einen Vortrag über Handys, Mailboxen und die Funktion von Freisprechanlagen zu halten. »Ich habe dich nicht verraten, wirklich. Warum sollte ich das tun? Ich bekomme jetzt wahrscheinlich mehr Ärger als du.«
    »Du hast mich verraten«, beharrte Duffy.
    »Das habe ich nicht … und wenn doch, dann wenigstens nicht absichtlich!«
    Verdammt, was tat er hier eigentlich? Diskutierte er wirklich mit einem Kind? Vielleicht. Aber vielleicht galten diese verzweifelten Beteuerungen seiner Unschuld auch in Wirklichkeit weniger ihr als dem

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