Feuer und Glas - Der Pakt
sich über ihn, presst ihre Lippen auf seinen Mund, versucht, ihm das Leben zurückzugeben. Langsam kommt ein Hauch von Farbe in seine bleichen Wangen, doch Milla spürt, welches Opfer sie dafür bringen muss. Je lebendiger er wird, desto ausgelaugter fühlt sie sich, als flösse mit jedem Atemzug ihre Lebenskraft in ihn hinein.
Zwischendrin hält sie inne.
Ihre Arme und Beine sind zerkratzt, denn der Sand unter ihr ist nicht weich, sondern hart, als bestünde er aus winzigen zerstoßenen Kristallen. Überallhin kann er dringen, unter ihre Kleidung, in die Augen, sogar im Mund spürt sie ihn.
Plötzlich weiß Milla, was ihr bevorsteht.
Sie muss bereit sein, ihr Leben zu geben, wie Marin prophezeit hat. Nur dann hat Luca eine Chance. Denn etwas in diesem uralten Ritual ist schiefgelaufen, entsetzlich schief sogar …
Kälte macht sich in ihr breit. Dazu kommt diese Müdigkeit, die alles lähmt. Kaum mehr vermag sie sich zu bewegen.
Dabei braucht Luca doch ihren Atem, all ihre Kraft!
Milla stößt einen schrillen Schrei aus.
Nur einer von ihnen wird lebendig davonkommen …
»Was hast du?« Luca sah sie besorgt an. »Wo warst du gerade? Komm zurück, Milla!«
Sie kämpfte um Luft, sah ihn blicklos an. Als er ihr den Arm reichen wollte, um sie zu stützen, wich sie zurück. Sie konnte, sie durfte ihn jetzt nicht noch einmal berühren!
»Die Gondel war also hier«, fuhr er fort, »das wissen wir jetzt.« An seinem Stirnrunzeln erkannte sie, dass ihr Rückzug ihm keineswegs verborgen geblieben war. »Irgendetwas muss geschehen sein, das deinen Vater dazu bewogen hat, sich um ein neues Versteck zu kümmern. Denk nach! Wo könnte es sein?«
Milla blieb stumm.
»Du warst eben wunderschön«, sagte er leise. »Und dein Licht hat gestrahlt wie ein heller Stern. Wir beide …«
Er hielt inne, schien zu lauschen. Seine Arme, die sich schon nach ihr ausgestreckt hatten, sanken herab.
»Hörst du die Chorknaben?« Junge Männer in schwarzweißen Talaren strömten in das Gotteshaus, um die Kerzen zu entzünden. »Wenn wir uns nicht beeilen, werden sie uns noch für Diebe halten!« Vorsichtig stellte Luca das Reliquiar zurück an seinen ursprünglichen Platz. »Wir müssen weitersuchen …«
Da war Milla schon losgerannt, die schweißnasse Hand fest um das Ruder geschlossen.
Wohin sollte sie sich wenden, um sich wieder halbwegs zu fassen?
Vor allem musste sie erst einmal alleine sein! Als Zuflucht fiel ihr das ippocampo ein, das heute geschlossen blieb. Trotz aller Anstrengungen, die Savinia und sie unternommen hatten, waren weder Reis noch Erbsen aufzutreiben gewesen, die traditionell zum Fest von San Marco verspeist wurden.
Der Tag, an dem das Ultimatum des Admirals ablief.
Der Schädel drohte Milla zu zerspringen, sobald sie daran dachte.
Immer mehr Menschen kamen ihr entgegen, als sie erneut ins Gewirr der Gassen tauchte. Sie waren festlich gekleidet, aber ihre Mienen waren bedrückt, als erwartete sie ein Leichenzug. Ein paar nickten ihr zu, doch für Milla verschwammen die Gesichter wie flüssiges Glas. Als sie endlich die Rialtobrücke erreicht hatte, quälte sie Seitenstechen, und sie musste den Rest des Wegs langsamer zurücklegen.
»Da bist du ja endlich«, empfing die bucklige Wasserverkäuferin sie säuerlich, als Milla in den Hof einbog. »Wird auch allerhöchste Zeit, wenn ihr eure Gäste heute noch satt bekommen wollt! Vorne hat niemand aufgemacht, als ich mir schon eine Weile die Beine in den Bauch gestanden hatte. Da dachte ich, ich schau mal hinten nach. Schließlich kenne ich ja eure Gepflogenheiten!«
»Wir haben geschlossen«, murmelte Milla.
»Dieses Geschäft lasst ihr euch entgehen? Alle werden sie heute ihr geliebtes Risibisi essen wollen!«
»Wir hätten nicht einmal genug Gemüse für eine Wassersuppe. Du bist umsonst gekommen.«
Neugierig reckte die Alte den Hals.
»Wo ist denn deine Mutter? Oder ihre rothaarige Schwägerin? Du bist ziemlich direkt, Mädchen! Die beiden waren immer viel freundlicher zu mir!«
Milla hatte inzwischen den Schlüssel aus dem Blumentopf geholt und aufgesperrt, während die Alte näher rückte. Ihre Hartnäckigkeit machte sie wütend. Hatte sie ihr nicht schon einmal gesagt, dass sie sie nicht derart bedrängen sollte?
»Bist du taub? Wir brauchen nichts«, rief Milla. »Und geh mir von der Pelle. Ich will allein sein.«
Die Wasserverkäuferin zog eine beleidigte Miene.
»Wenn ich wenigstens meinen Becher Wein haben könnte …«
»Heute nicht.
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