Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
Sekunde zu ihr um. Andrew weiß nicht, ob es reiner Überlebensinstinkt ist oder seltene Höflichkeit, doch der Blick währt exakt zwei Sekunden, bevor er sich wieder abwendet. Der Mann verfügt wohl über ein rudimentäres Verständnis für Benehmen. Einen ausgeprägten Sinn für heikle Situationen scheint er auch zu besitzen, wie Andrew dessen Gesichtsausdruck entnehmen kann. Möglicherweise hat er gewittert, dass es besser ist, diese konkrete Person keinen Moment zu lange zu taxieren.
Urteil: jung, unerfahren, aber mäßig sympathisch. Zumindest, solange er sein Verhalten nicht merklich ändert.
Josie hat den Tisch erreicht und setzt die Tasse behutsam auf ihm ab. Immer noch, ohne den Kopf zu heben und langsam, ganz langsam, wird Andrew etwas wütend. Er hat ihr nichts getan!
Sicher ist er gegangen, aber verdammt, er muss ein Unternehmen leiten und offenbar hat Johnson seine Aufgabe doch gut bewältigt, oder? Bevor er jedoch Gefahr läuft, eine bissige und ziemlich unprofessionelle Bemerkung verlauten zu lassen, entscheidet sie sich, ihn endlich anzuschauen. Ihre Miene straft Andrew und seine dummen Bedenken Lügen und lässt ihn wie einen gottverdammten Idioten da stehen. Sie hat ihn nicht etwa ignoriert, um ihn zu meiden, sondern weil sie sich nicht verraten will. Ihre Augen strahlen, die Lippen sind leicht geöffnet, und für die Ewigkeit von zehn Herzschlägen versinken ihrer Blicke ineinander.
Du hast mir gefehlt!
Du mir mehr, darauf kannst du wetten!
Etwas zu spät erkennt Andrew, dass Hargreve krampfhaft bemüht in seine Unterlagen starrt – in dem wagemutigen Versuch, der peinlichen Situation wenigsten ein bisschen Sprengstoff zu nehmen. Mühsam reißt er sich zusammen. »Danke, Miss Kent!«
»Keine Ursache, Sir!« Sie erwidert sein knappes Lächeln scheu und zaghaft wie gewohnt, auch der Hass ist mit von der Partie, aber diesmal wirklich sehr weit verborgen hinter Massen von Zuneigung. Alles ist unverändert, sie immer noch seine Josie.
Er zwingt sich, ihr nicht nachzusehen, als sie rasch den Raum verlässt, sondern konzentriert sich auf Enkel Hargreve. Der hat offenbar beschlossen, dass die Gefahrensituation vorbei und es sicher ist, wieder den Kopf zu heben.
»So«, beginnt Andrew betont nonchalant. »Dann lassen Sie uns herausfinden, ob wir uns wie üblich einig werden ...«
Enkel Hargreve erweist sich mit jedem Zoll als die genetische Masse seines Großvaters.
Er verhandelt gerissen wie der Alte, doch gleichfalls ebenso fair. Die beiden Männer benötigen weniger als eine halbe Stunde, um sich in allen Belangen auf Augenhöhe zu treffen. Er scheint ebenfalls den übrigen Habitus seines Grandpas übernommen zu haben, denn er gibt sich mit einem Handschlag und der Versicherung zufrieden, dass ihm die Unterlagen noch heute per Boten zugesandt werden.
Andrew lässt es sich nicht nehmen, seinen Gast hinauszubegleiten. Als sie das Vorzimmer betreten, sehen die Frauen auf. Gail steht wieder mal der Mund offen, ihr Boss retourniert mit eisigem Blick. Die Anweisung ist unmissverständlich an die alte Assistentin gegangen, sollte sie glauben, die neue als Hilfskraft missbrauchen zu können, hat sie sich getäuscht.
Josie ignoriert er gleich ganz, zumindest so lange, wie Enkel Hargreve sich im Raum befindet. Andrew muss ihn ja nicht auch noch auf ihre Gegenwart aufmerksam machen. Der junge Mann bedenkt die beiden Damen mit einem äußerst knappen Nicken, wünscht »Einen schönen Tag« und verlässt lächelnd das Büro.
Ja, er wirkt tatsächlich in Ordnung. Jedenfalls ist er der erste männliche Zeitgenosse, der Josie weder auf die Brüste, die Beine oder den Hintern geglotzt hat. Wenn ihn das für Andrew bereits sympathisch macht, dann hat er seine Ansprüche gehörig nach unten geschraubt, realisiert er plötzlich. Doch eigentlich stimmt das nicht. Das Gespräch war eines der angenehmsten, das er in den vergangenen Tagen geführt hat. Anwesende Personen ausgenommen.
Er mustert seine Rettung, die ihn vermeintlich unauffällig beobachtet und sofort aufblickt. Auffordernd neigt er den Kopf.
Sie schießt hoch, beherrscht sich jedoch in letzter Sekunde und passiert gemessenen Schrittes Gails Tisch und Stuhl einschließlich alternder Assistentin selbst. Deren Mund ist noch eine Nuance weiter aufgegangen. Nie war etwas irrelevanter, denn nachdem Josie an ihm vorbei ins Büro gehuscht ist, schließt er die Tür und hat sie im nächsten Moment an sich gezogen.
Wie stellt sie das bloß an? Ihm ist, als
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