Feueraugen III. Das Schloss
die Geschichte des menschlichen Gewissens gegenüber. Für gewöhnlich schämt man sich seiner Schwächen und Untaten - nur wenige stehen darüber und können Großmut, Samaritertum, Heldentaten oder sonst welche allgemein akzeptierten Taten vorweisen, die als etwas Besonderes gelten. - Die Sage aber ist in viel kräftigeren Farben gezeichnet als das, was einzelne Menschen erleben. Sie konzentriert Gesamtheiten auf engsten Raum. Dadurch erklärt es sich, dass Xaber Dracer in unserer Geschichte eher die Züge eines notorischen Zerstörers trägt, obwohl er ja genaugenommen nur der Richter der Bösen und Verwerflichen ist."
"Gottvater, der am Jüngsten Tag die Ungerechtigkeit bestrafen wird!" murmelt Zeramov und reibt sich nachdenklich den Nasenflügel. "Die christliche Religion hatte ziemlichen Einfluss auf denjenigen, der die Sage erdacht oder zum besseren Teil ausgearbeitet hat! Wäre er Atheist gewesen, hätte er vielleicht das totale Chaos in Aussicht gestellt."
"Selbstverständlich!" bestätigt Caulk.
"Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass in einer Sage nicht nur Allegorien, Metaphern und verschlüsselte Wahrheit geborgen sind. Es erstaunt mich immer wieder, wie viel erschreckende Wirklichkeit man erfährt, wenn man die Sagenwelt durchforscht!" Kalfaters Stimme hat einen Schlussstrich gezogen ... sein Blick geht hinüber zu einem schwachen Schatten am Horizont.
"Sie haben recht, meine Herren!" der Signore begreift als Erster.
"Wir leben im Augenblick in dieser Sagenwelt, und da wir noch immer wir sind, haben wir eine große Portion Wirklichkeit in diese Unwirklichkeit mitgebracht!"
"Genau das wollte ich sagen." Kalfater nickt dem Signore anerkennend zu.
"Reiten wir also weiter!" meint Marlène, die offenbar ebenso verstanden hat, dass man sich nicht mit Diskussionen und Erläuterungen aufhalten sollte. "Auf Rachass erwartet uns sicherlich nicht nur die Schemenhaftigkeit einer kindischen Sage, n'est-ce pas?"
('Worauf Du Dich verlassen kannst, Marlèn'chen - worauf Du Dich verlassen kannst!')
"Weiter, Kinder!"
Baldwin und die beiden Alten übernehmen wieder die Führung. Spätestens in einer Stunde würde man das Schloss erreicht haben, meint Caulk und den anderen wird mit dieser Žußerung bewusst, dass ihrem Abenteuer noch der allerletzte Höhepunkt fehlt - die Auflösung, die Erfüllung, die endgültige Erfahrung ... Erkenntnis vielleicht!
-7- Schloss Rachass
"Da vorne muss es sein!"
"Ssssscccchhhht! Fräulein Killmayer! Wenn man uns hört!" Baldwin winkt energisch ab.
"Ja, nicht zu laut, liebe Freunde!" sagt Kalfater. "Auf Rachass ist man im ?-nebenbei bemerkt- berechtigten Glauben, dass sich kein gewöhnlicher Sterblicher in die Nähe des Schlosses wagen würde. Sollte man aber auf uns aufmerksam werden, dann ... dann dürfte es uns wenig nützen, dass wir keine normalen Sterblichen sind ... in dieser Welt!"
"Wissen sie ..." fügt Caulk flüsternd hinzu, "... theoretisch könnte man vielleicht sogar über die -meistens herabgelassene- Zugbrücke ins Schloss hinein spazieren. Aber Theorie und Praxis unterscheiden sich für gewöhnlich. Wir haben es jedenfalls noch nie gewagt, die Praxis durch theoretische Möglichkeiten herauszufordern."
Etwas später stehen sie in einem dichten Wäldchen. Die Pferde haben sie an einem -wie die beiden Alten meinen- 'sicheren' Ort zurückgelassen.
Vor ihnen ragen die hohen Türme des Schlosses auf. Dichter Nebel verhüllt einen Teil des gewaltigen Bauwerkes und eine gespenstische Stimmung hat alles ergriffen. Die Anzahl der Türme scheint sich immerfort zu verändern. Der Signore zählt zuerst zwölf Türme, Baldwin nach ihm kommt auf nur neun und Michel bringt es zuletzt auf fünfzehn.
"Alles Zahlen, die durch drei teilbar sind!" stellt Zeramov nachdenklich fest.
"Was wollen sie damit sagen?" Marlène steht neben dem Drehbuchautor und sieht ihn fragend an.
"Ich weiß es nicht ... aber mir fällt immer wieder was auf. Keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat!" gibt Zeramov zur Antwort.
Hinter Büsche geduckt stehen sie da und beobachten die mächtige Zugbrücke, die über die tiefe, zerklüftete Schlucht führt, wie sie ihnen bereits aus der Sphäre der Irrealitäten bekannt ist. Erwartungsvoll und zugleich etwas zweiflerisch sehen die Baldwinschen immer wieder zu den beiden Alten hinüber, die sich ein Stück weiter vorgeschlichen haben.
Plötzlich erscheint ein Reiter auf der Zugbrücke. Kalfater und Caulk eilen zurück und ducken sich
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