Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuerflügel: Roman (German Edition)

Feuerflügel: Roman (German Edition)

Titel: Feuerflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
er den Bach entdeckte, fühlte er sich noch mehr ermutigt. Er schluckte schon in Erwartung, sein Maul war ausgetrocknet. Die Wasseroberfläche glänzte im Sternenlicht – wenn man es noch so nennen konnte. Er war jetzt zu durstig, um vorsichtig zu sein, daher flog er niedrig über den Bach mit offenem Maul, um das Wasser aufzunehmen ...
    Und zog steil hoch, hustete heftig, als ihm der sandige Strudel in die Kehle floss. Es war überhaupt kein Wasser, nur eine Art staubiges Nichts, das sich als Wasser verkleidete. Wie die Insekten existierte auch das Wasser gar nicht.
    „Bah!“, rief er wütend. „Ich hasse diesen Ort.“
    Eine neue Sorge schoss ihm jetzt durch den Kopf. Er erinnerte sich daran, wie ihm seine Mutter einmal erzählt hatte, dass man länger ohne Nahrung als ohne Wasser überleben könnte. Also, wie lange würde er überleben?
    „Kommt mit uns! Kommt mit uns! Kommt mit uns zum Baum!“
    Greif blickte hoch durch die Äste und sah eine geschlossene Gruppe von Fledermäusen vorbeifliegen, vielleicht zwei Dutzend, alle verschiedene Arten. Sie strichen niedrig über den Wald.
    „Kommt mit!“, rief wieder die Fledermaus, die vorneweg flog.
    Greif folgte ihr. Er hielt sich gerade unterhalb der Baumwipfel in Deckung.
    „Pilger ...“, konnte er einige von den Oasen-Fledermäusen um ihn herum murmeln hören, „die Pilger sind wieder da ...“
    Greif sah, dass die Anführerin ein Silberflügel-Weibchen war und ein altes dazu. Ihr Fell war überwiegend grau und stellenweise spärlich, sodass Flecken runzliger Haut zu sehen waren. Ihr ganzer Körper vermittelte den Eindruck von Alter und Müdigkeit. Während sie flog, waren ihre Schultern hochgezogen, ihre langen Finger durch geschwollene Gelenke entstellt, ihre Flügel schlaff und voller Blasen. Ihre verkrümmten Daumenkrallen wirkten uralt wie umgedrehte Wurzeln. Dennoch war sie eine eindrucksvolle Gestalt, und ihre noch kräftige Stimme verlangte Aufmerksamkeit. Greif konnte nicht anders als bei ihrem Anblick Hoffnung zu empfinden, andererseits war er von dem letzten Silberflügel-Weibchen enttäuscht worden, das er für eine Älteste gehalten hatte.
    „Ihr dürft nicht hier bleiben!“, rief die Anführerin der Pilger. „Dies ist nicht eure letzte Bestimmung. Kommt mit uns.“
    Während die Pilger über ihren Köpfen kreisten, kam eine große Zahl von Silberflügeln aus der Oase auf die höheren Äste, schaute neugierig hoch, murmelte untereinander. Keiner wagte sich näher heran. Greif hielt eilig Ausschau nach Luna, konnte sie aber nirgendwo in der Menge entdecken.
    „Verschwindet!“, rief jemand den Pilgern zu, und Greif erkannte Coronas Stimme. „Ihr seid hier nicht erwünscht!“
    Von den Bäumen fingen jetzt auch andere Fledermäuse an zu rufen.
    „Ihr seid verrückt!“
    „Haut ab!“
    „Wir sind glücklich, wo wir sind!“
    „Hört auf, uns zu belästigen!“
    „Geht! Geht! Geht!“
    Es wurde ein Choral, ein fürchterlicher Lärm, der wie das heisere Geschrei von Raben klang, das die alte Pilgerin zu übertönen suchte.
    Aber Greif hatte das Gefühl, in ihren Stimmen wäre mehr als nur Spott; da war außerdem noch eine Spur Verzweiflung. Ihre verhärteten Mienen verrieten auch eine starke Ängstlichkeit. Sogar während ihre Rufe und Schreie durch den Wald hallten, war die Stimme der alten Pilgerin irgendwie zu hören.
    „Wir gehören nicht mehr zu den Lebenden!“, rief sie im Flug. „Ihr müsst das akzeptieren. Ihr Seid Alle Tot!“
    Greif schnappte nach Luft, er fühlte eine gewaltige Welle von Überraschung und Erleichterung. Dieser Silberflügel wusste also Bescheid! Wie kam es, dass sie Bescheid wusste und alle anderen nicht?
    „Dies ist die Unterwelt“, rief die Pilgerin. „Jeder Einzelne von euch ist tot.“
    „Ich fühle mich gut, vielen Dank!“, ertönte eine spöttische Stimme von den Bäumen. Aus allen Richtungen erklang schrilles Gelächter.
    „Wir sollen nicht ewig hier bleiben“, fuhr die Pilgerin fort. Ihre Stimme blieb voller Kraft. „Zu Lebzeiten haben wir viele Reisen unternommen. Es gibt noch eine letzte Reise, die ihr machen müsst.“
    „Geh du nur voran!“, rief jemand anders.
    „Ihr glaubt alle, dass ihr lebt, aber das ist eine Täuschung. Der Tod hat die Erinnerungen an euer vorheriges Leben verdunkelt, aber ihr müsst euch anstrengen, euch zu erinnern. Leugnet nicht die Wahrheit. Dies ist ein toter Ort, aber es gibt ein zukünftiges Leben. Ihr müsst nicht immer hier bleiben. Wir können euch

Weitere Kostenlose Bücher