Feuerflügel: Roman (German Edition)
Ende genommen.
Eine lange Zeit flogen sie schweigend über das Ödland. Schatten vergrub seine Angst und Ungeduld in der einfachen Tätigkeit des Fliegens, schlug die Flügel nach unten, hob sie wieder hoch, immer wieder, und schaute derweil nach Greif aus.
Die Landschaft war so flach, dass es wenig Plätze zu geben schien, wo sich eine Fledermaus verbergen konnte, obwohl Schatten sich gelegentlich von den anderen entfernte, um einen Haufen Felsen zu untersuchen, eine Erhebung, und mit Klang nachforschte, aber unwillig sein Versprechen hielt, Greifs Namen nicht laut zu rufen. Was er wirklich wollte, war, ihn mit aller Kraft hinauszuschreien.
„Wenn dein Sohn am Leben ist, denke ich, wird er vielleicht genauso leuchten wie du“, sagte Java ruhig. Schatten nickte überrascht; daran hatte er nicht gedacht. Dann runzelte er die Stirn. „Aber ich würde das nicht sehen, oder?“
„Aber ich. Und ich halte ebenfalls nach ihm Ausschau.“
„Danke, Java.“
Als er zum steinernen Himmel hochblickte, konnte er seinen Sternenkreis nirgendwo finden. Er musste noch unter dem Horizont sein und schien vielleicht auf die andere Seite der Unterwelt.
Wie lange war er eigentlich schon hier unten? In Gedanken ging er alles durch, was passiert war, und versuchte, die Minuten zusammenzurechnen. Zwölf Stunden vielleicht. Eine einzige Nacht. Sein Körper teilte ihm mit, er sollte jetzt schlafen, also müsste es in der Oberwelt jetzt Tag sein. Wenn er Greif nicht bald fand, wäre ihre einzige Fluchtroute blockiert. Es sei denn ...
„Wie weit ist es bis zum BAUM?“, fragte er.
„Nun, die Karte gibt natürlich keine Entfernungen an“, erklärte Yorick über die Schulter. „Vielleicht eine halbe Million Flügelschläge.“
Eine halbe Million Flügelschläge. Das war eine Reise von zwei Nächten; weniger, wenn sie sich keine Zeit zum Ausruhen oder Schlafen nahmen. „Können die Lebenden den BAUM betreten?“, fragte er Java.
„Das weiß ich nicht“, antwortete sie mit dem Ausdruck des Bedauerns. „Das ist etwas, worüber Frieda Silberflügel gegenüber den Toten nicht gesprochen hat. Sie hat gesagt, dass Nocturna den BAUM für alle Fledermäuse gemacht hätte und er uns dorthin bringen würde, wo wir am dringendsten hinmüssten.“
Wenn Frieda doch nur jetzt hier wäre, dachte Schatten frustriert. Sie wäre in der Lage, ihm zu sagen, ob der BAUM ein Fluchtweg für Greif und ihn selbst war oder einfach eine Sackgasse.
Aber:
Er wird dich dorthin bringen, wo du am dringendsten hinmusst. Nun, wo sie hinmussten, das war ihr Zuhause, und wenn sein Spalt im Himmel blockiert wurde, könnte der BAUM ihre einzige Hoffnung sein. Ein Teil von ihm war allerdings noch nicht einmal davon überzeugt, dass es diesen BAUM überhaupt gab. Was wäre, wenn es einfach eine weitere Legende war, ein Gerücht, das die Toten in die Welt gesetzt hatten, die verzweifelt auf ein anderes Leben hofften?
„Du bist sicher mit den Vampyrum?“, flüsterte er zu Java. „Dass sie ebenfalls in den BAUM dürfen?“
„Du findest diese Vorstellung abstoßend, nicht wahr?“, sagte Smog, und Schatten drehte sich um und sah den Kannibalen neben sich fliegen. Schatten antwortete nicht.
„Du meinst, wir bösen Fleischfresser sollten für immer hier bleiben und nur ihr kleinen, guten Fledermäuse verdient, in eine neue Welt zu ziehen.“
„Genau“, murmelte Nemo von vorn.
„Auch wir sind Nocturnas Geschöpfe“, erklärte Smog sachlich. „Sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Deshalb ist der BAUM auch für uns da.“
„Wie angenehm für euch“, sagte Schatten wütend. Es kam ihm völlig falsch vor. Unfair. Warum sollten diese Fleisch fressenden Teufel einen Anteil an etwas Vollkommenem haben? Besonders, da ihr Gott Zotz nur darauf aus war, sich von den Lebenden zu nähren und eine ewige Nacht zu schaffen, damit er herrschen konnte.
„Verrätst du Zotz nicht, indem du verschwindest?“, fragte Schatten kühl. „Warum solltest du das Reich deines eigenen Gottes verlassen wollen?“
Für eine Weile sagte Smog gar nichts, und Schatten war schon enttäuscht, dass das Gespräch beendet wäre. Auf merkwürdige Weise genoss er es, er war an dem interessiert, was Smog zu sagen hatte. Es gab selten eine Gelegenheit, mit einem Vampyrum zu sprechen. „Hier unten ist es wie das Leben, nur weniger“, sagte Smog. „Wir tun nur so, als ob wir lebten. In Wirklichkeit brauchen wir weder Nahrung noch Schlaf. Wir träumen nicht. Wir warten hier nur ab,
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