Feuerflut
sein, um Amnestie zu erhalten.
„Was hast du getan?“
Kylis spürte, wie sich Mirias Haltung versteifte, und sie wünschte, sie hätte nicht gefragt. Nicht nach der Vergangenheit zu fragen, war eines der ungeschriebenen Gesetze im Lager.
„Entschuldige … Glaube nicht, daß ich nicht mit dir darüber reden möchte – aber ich kann es einfach nicht.“
Kylis saß einige Minuten stumm da. Mit der Spitze ihres Schuhs fuhr sie wie ein verängstigtes Kind über den Stein, gleichzeitig rieb sie die silberne Tätowierung auf ihrer linken Schulter. Der Farbstoff reizte das Gewebe. Das unverständliche Muster hatte seit geraumer Zeit weder geschmerzt noch gebrannt, doch nun fühlte sie die kaum wahrnehmbaren Linien. Das Kratzen war ihr schon zur Gewohnheit geworden. Das Mal repräsentierte ein Leben, zu dem sie hoffentlich nie mehr würde zurückkehren müssen. Das Reiben beruhigte sie.
„Was ist das?“ fragte Miria. Dann verzog sie ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Tut mir leid – nun tue ich gerade das, worum ich dich gebeten habe, es nicht zu tun.“
„Das macht nichts“, antwortete Kylis. „Es ist mir egal. Das ist die Tätowierung einer Raumhafenratte. Man erhält sie, wenn man von den anderen Ratten akzeptiert wird.“ Trotz allem war sie stolz auf das Zeichen.
„Was ist eine Raumhafenratte?“
Daß Miria der Begriff Raumhafenratte nicht geläufig war, wunderte Kylis nicht. Die wenigsten Bewohner Rotsonnes hatten davon gehört. Auf jeder anderen Welt, die Kylis bisher besucht hatte, wurden die Ratten, wenn nicht verehrt, so doch bewundert. Auf einigen Welten existierte sogar ein Verehrungskult. Selbst dort, wo sie offiziell unwillkommen waren, übte ihr öffentliches Ansehen genug Einfluß aus, um ein Kesseltreiben, wie es von Rotsonne begonnen worden war, zu verhindern.
„Ich war eine. Das sind Menschen, die sich an Bord von Raumschiffen schmuggeln und in ihnen leben, in Raumschiffen und in Raumhäfen. Wir reisen überall hin.“
„Das klingt … interessant“, sagt Miria. „Aber hat es dir nicht Gewissensbisse bereitet zu stehlen?“
Noch vor einem Jahr hätte Kylis über diese Frage gelacht, obwohl sie wußte, daß Miria es ernst meinte. Doch inzwischen nagten Zweifel an Kylis: Konnte es doch Wichtigeres geben, als die Sicherheitsposten eines Raumhafens zu überlisten? Als sie begann, sich solche Fragen zu stellen, kam sie nach Rotsonne, wodurch sie nie die Chance erhielt, dies herauszufinden.
„Ich begann, als ich zehn Jahre alt war“, sagte Kylis zu Miria. „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht.“
„Du hast dich auf ein Sternenschiff geschmuggelt, als du erst zehn Jahre alt warst?“
„Ja.“
„Ganz auf dich allein gestellt?“
„Selbst wenn andere dich bemerken, wird dir niemand helfen. Es ist möglich. Und ich glaube, es war die einzige Möglichkeit, um von dort, wo ich war, wegzukommen.“
„Du mußt an einem schrecklichen Ort gewesen sein.“
„Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, ob es wirklich so schlecht war, wie ich dachte. Ich erinnere mich an meine Eltern, doch ich habe sie niemals lachen gesehen – sie schrien sich immer nur gegenseitig an und schlugen mich.“
Miria schüttelte den Kopf. „Das ist fürchterlich, von den eigenen Leuten zum Ausreißen gezwungen zu werden – keine Heimat zum Aufwachen zu haben … Bist du jemals zurückgekehrt?“
„Ich glaube nicht.“
„Wie?“
„Ich erinnere mich kaum noch an meinen Geburtsort. Ich dachte immer, ich würde mich an den Raumhafen erinnern, aber vielleicht gab es mehrere, vielleicht war ich schon dort, vielleicht aber auch nicht. Das Dumme ist, ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie den Planeten genannt haben. Vielleicht werde ich das nie erfahren.“
„Ich kann mir das nicht vorstellen – nicht zu wissen, wer du bist, woher du kommst oder wer deine Eltern sind.“
„ Das weiß ich“, sagte Kylis.
„Du hättest etwas über diese Welt herausfinden können. Fingerabdrücke, das Bordbuch des Raumschiffes …“
„Ich glaube, das wäre möglich gewesen – wenn ich es jemals gewollt hätte. Ja, vielleicht tue ich es eines Tages, wenn ich jemals hier rauskomme.“
„Es tut mir leid, daß wir dich aufhalten. Wirklich. Es ist nur … wir glauben, daß jeder, der dazu in der Lage ist, seinen Teil zur Gesellschaft beisteuern sollte.“
Kylis fiel es schwer zu glauben, daß Miria, obwohl man sie nach Brückenkopf gebracht hatte, sich noch immer mit dem Kollektivbewußtsein der Bewohner
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