Feuerflut
von hier zu entkommen.
Seit sie nicht mehr mit ihren beiden Freunden zugleich zusammen sein konnte, zog sie vollständige Einsamkeit vor. Für Kylis war es eine Sache des Instinkts sicherzustellen, daß niemand in der Lage war, ihr zu folgen. Durch das Entfalten der Manschetten ihrer Stiefel schützte sie ihre Beine bis in halbe Höhe der Oberschenkel. Wegen der Hitze verschloß sie die Stiefel nicht am Saum ihrer Hose.
Der Boden des Waldes war unregelmäßig und stieg sanft an, wodurch sich weite Hohlräume bildeten, in denen sich das Regenwasser sammelte. Kylis durchschritt einen der großen, seichten Tümpel, wobei sie jeden Schritt mit dem Zeh abtastete, bevor sie den Fuß vollständig aufsetzte. Die nebligen Schatten und das rötliche Licht führten oftmals in die Irre und erzeugten auf der Wasseroberfläche die Illusion großer Tiefe. In dem stillen Wasser gediehen mikroskopische Parasiten, die ausschwärmten. Normalerweise vermehrten sie sich im Innern von Fischen oder Amphibien, doch waren sie nicht an deren Existenz gebunden. Durch eine offene Wunde konnten sie in den menschlichen Körper gelangen und eine apathische Muskelschwäche hervorrufen. Manchmal breiteten sie sich auch langsam im Gehirn aus. Der Wald war kein Ort, an dem man es sich leisten konnte, ins Wasser zu fallen.
Indem sie eine tiefere Stelle umging, erreichte sie das andere Ufer und betrat eine glitschige Felsplatte, wo ihre Füße keine Spuren hinterlassen würden. Am Ende des Felsens war der Boden höher und unbewachsen, doch der feine Nieselregen fiel unaufhörlich.
Die Farne wuchsen nun weniger zahlreich, der Boden stieg steil an, und Kylis begann zu klettern. Auf dem Gipfel des Hügels wehte eine leichte Brise, die Vegetation war nicht so dicht. Kylis fand einige eßbare Schoten, pflückte sie und schälte sie vorsichtig. Das Fruchtfleisch war würzig und fruchtig. Der Fruchtsaft, prickelnd und sauer, rann ihre Kehle hinab. Sie pflückte noch einige der Früchte und band sie an ihrem Gürtel fest. Solche, die bereits keimten, legte sie vorsichtig beiseite. Es wuchsen keine eßbaren Pflanzen mehr in der Nähe des Lagers, daher war sie bedacht, die Keimlinge nicht zu zerstören. Nichts Eßbares wuchs mehr beim Lager, jedenfalls nicht, das man in der Tagesfrist des einzigen freien Tages hätte abernten können.
Rotsonnes Bahn um die Sonne verlief genau kreisförmig, daher gab es keine Jahreszeiten. Die Pflanzen besaßen keine „innere Uhr“, die sich nach den Sonnenumläufen des Planeten richtete, weshalb immer nur wenige Zweige eines Baumes blühten, während der Rest unfruchtbar blieb. Wenige Wochen später begann dann ein anderer, davon unterschiedlicher Wachstumsprozeß. Das war keine sehr effiziente Methode, die die Natur sich erkoren hatte, um die Flora am Leben zu erhalten, doch sie hatte funktioniert, bis die Menschen kamen und sowohl fruchtbare als auch unfruchtbare Pflanzen vernichteten. Nach Kylis Beobachtungen war die Evolution mit der Ankunft der Menschen und der durch sie bewirkten Veränderungen zum Stillstand gekommen, und sie wagte nicht zu sagen, welches Ausmaß diese Zerstörung besaß.
Ein weißes Aufleuchten, eine Bewegung am Rande ihres Gesichtskreises, ließ sie erzittern. Sie fröstelte, wünschte, die Halluzinationen, die offenbar zurückgekehrt waren, würden verschwinden. Weiß war keine natürliche Farbe hier im Farnwald, auch nicht das schmutzige Rosa, das unter Rotsonnes enormem Stern als Weiß galt. Doch keine phantastischen Kreaturen tanzten ihren irrsinnigen Reigen um sie herum, keine verwirrenden Laute verunsicherten sie. So stand sie, bewegungslos, während der feine Nebel des Niederschlags sie umhüllte, unter dessen Last die gigantischen Farnwedel sich beugten. Langsam sah sie sich um, bis sie die Ursache der Bewegung erblickte. Sie war nicht allein.
Leise schlich sie vorwärts, bis sie unter der dichten Schwärze des Blattwerks Einzelheiten erkennen konnte. Was sie gesehen hatte, war die Uniform Brückenkopfs: weiße Stiefel, weiße Hosen und ein weißes Hemd für jeden, der einen Grund hatte, dergleichen zu tragen. Eine der anderen Gefangenen saß auf einem Stein, blickte über den Waldrand hinaus auf den Sumpf. Tränen rannen ihr über das Gesicht, doch sie gab keinen Laut von sich. Miria.
Da sie sich nur ein kleines bißchen schuldig fühlte, weil sie in die Privatsphäre der anderen eindrang, beobachtete sie auf die gleiche Art weiter, wie sie es schon geraume Zeit getan hatte. Kylis
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