Feuerflut
…
9:56
Tokio, Japan
Riku Tanaka saß vor einem Computer im Innern des labyrinthischen Gebäudes, das euphemistisch als »Untersuchungsbehörde für öffentliche Sicherheit« bezeichnet wurde. In Wahrheit war es die wichtigste Spionageorganisation Japans. Riku wusste nicht einmal, in welchem Trakt oder auf welcher Etage er sich befand – wahrscheinlich unter der Erde, dem lästigen Gebrumm der Klimaanlage nach zu schließen.
Es war ihm auch egal.
Er hielt Janice Coopers Hand.
Seit man sie aus dem eiskalten Wassertank des Super-Kamiokande-Detektors gerettet hatte, hielt er fast ununterbrochen Körperkontakt. Ihre Nähe half ihm, sein psychisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie glich dem Anker, der ein Schiff in stürmischer See stabilisiert.
Sie warteten darauf, dass seine verbesserte Software die neuesten Daten der verschiedenen Teilchenlabors verarbeitete. Da sich der Zeitpunkt näherte, da die kritische Masse erreicht würde, fielen zahlreiche unbekannte Variablen weg, sodass sich der Zeitpunkt der Explosion genauer bestimmen lassen würde.
Endlich war die Berechnung abgeschlossen.
Das Ergebnis wurde angezeigt.
Riku krampfte unwillkürlich die Finger um Janice’ Hand. Sie erwiderte seinen Händedruck, denn sie war ebenso trostbedürftig wie er.
»Wir sind verloren.«
5:56
Yellowstone Nationalpark
Painter kauerte neben dem Toten.
Der Mann lag auf dem Rücken, gebettet auf ein Bisonfell, die Hände auf der Brust gefaltet.
Die Indianertracht der Mumie war heller als die der Toten, die sich draußen befanden. Den dünnen Hals umschloss ein perlmuttfarbener Ring aus weißen Adlerfedern. In seinen langen grauen Haarzopf hatte jemand mit großer Sorgfalt getrocknete Blüten eingeflochten. Ein perlenverzierter Umhang – genau genommen ein Leichentuch – bedeckte seine knochigen Schultern.
Dieser Mann hatte keinen Selbstmord begangen. Jemand hatte ihn hier im Allerheiligsten bestattet, was eine große Ehre bedeutete.
Painter ahnte den Grund.
Zwei Gegenstände lagen unter den vertrockneten, blassen Händen des Toten.
Unter der einen ein weißer Holzstock, dessen silbernen Knauf ein französisches Lilienwappen zierte.
Unter der anderen ein ledergebundenes Journal aus Birkenpapier.
Dies war der Leichnam Archard Fortescues.
Painter ahnte, dass er hiergeblieben war, als Lewis und Clark aufgebrochen waren, um sein großes Geheimnis zu wahren und zu beschützen. Offenbar hatten ihn die Indianer, bei denen er lebte, als einen der Ihren betrachtet. Der Sorgfalt nach zu schließen, mit der sein Leichnam hergerichtet worden war, hatten sie ihn sogar verehrt.
Painter wandte sich ab. »Ruhe in Frieden, mein Freund. Deine lange Wache ist zu Ende.«
Vor einer offenen Tür an der Rückseite des Raums stand Chin. Er wirkte bestürzt. »Direktor, das sollten Sie sich ansehen.«
Painter ging zu Chin hinüber, der die Hintertür des Allerheiligsten anleuchtete. Hank und Kowalski schlossen sich ihnen an.
Hinter der Schwelle führte eine Treppe in einen großen Raum hinunter, der das Allerheiligste an beiden Seiten umfasste.
»Das ist die Schatzkammer des Tempels«, sagte Hank.
Painter staunte. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Kowalski fasste die Situation am treffendsten zusammen.
»Wir sind am Arsch.«
5:57
Die Wange an den Gewehrkolben gelegt spähte Major Ashley Ryan durchs Zielfernrohr. In fünfzig Metern Entfernung ließ Bernd seinen Arm sinken. Die Erregung des Jägers stand ihm ins Gesicht geschrieben. Immer mehr Söldner kamen aus der Deckung, machten sich bereit, die Felsenfeste zu erstürmen.
»Major?«, sagte Marshall.
Ryan hatte dem jungen Mann keinen Trost zu bieten. Auch nicht Boydson, der zusammengesunken mit dem Rücken am Felsen lehnte, in der Hand einen Dolch, die einzige Waffe, die ihm geblieben war. Seine beiden Männer waren gerade mal Anfang zwanzig. Boydson hatte zu Hause einen kleinen Jungen. Marshall wollte seiner Freundin nächstes Wochenende einen Heiratsantrag machen. Er hatte sogar schon die Ringe ausgesucht.
Ryan konzentrierte sich auf den Gegner.
Er wollte so viele Söldner wie möglich töten. Sie sollten für das Leben seiner Leute mit Blut bezahlen.
Er beobachtete Bernd durchs Zielfernrohr, wartete darauf, dass er näher kam. Er wollte keine einzige Kugel verschwenden. Jeder Schuss musste ein Treffer sein.
Du sollst mir nicht entkommen …
Ryan aber sollte dieses Erfolgserlebnis versagt bleiben.
Auf einmal fasste Bernd sich an den Hals. Blut quoll ihm aus dem
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