Feuerfrau
bunten indianischen Tasche. Wenn er dazu aufgelegt war, ließ er sich auf einen Stein nieder. Er zog die Flöte aus dem Etui, setzte sie an seine Lippen. Die winzigen Spiegel glitzerten bei jedem Atemzug. Der schwingende, zarte Klang jagte mir einen Schauer über den Rücken. Es war kein Schauer der Angst, sondern der Ehrfurcht. Dieser Klang, so alt wie die Insel, kam von ferne, aus einem anderen Land. Vielleicht hatte früher, in unerforschten und unserem Gedächtnis unerreichbaren Zeiten, eine Verbindung zwischen den Erdteilen bestanden? Jene, die Schönheit lieben, sterben früher, hatte Haris Makratis gesagt. Diese Musik war ein Trost, eine Verheißung. Ein Netz aus Tönen, in sich geschlossen, von allem Äußeren gelöst. Die Kulturepoche dieser Insel war vorbei; übriggeblieben waren nur noch Ruinen. Die windgeborene Süße jedoch brachte die Luft zum Schwingen; ich spürte den Klang, durch die Asche und den Staub, durch den Schutt darunter, durch die lebende Erde und das heiße Gestein, hinabsinken zu den verborgenen Höhlen, wo die Toten vieler Zeitalter schliefen.
»In der Bezirksstadt Papantla, im Staate Veracruz«, erzählte Manuel,
»wird jedes Jahr das Fest der Voladores, der Rundflieger, gefeiert. Papantla liegt inmitten von Vanillewäldern; früher wurde mit diesem Fest der Regengott Tlaloc beschworen, heute besteht es nur noch als Touristenattraktion. Oder auch nicht. Zuweilen kann die Wahrheit nur die halbe Wahrheit sein. Lange vor dem Fest suchen die Bauern im Urwald einen Baum aus, der ihnen hoch genug erscheint. Sie fällen diesen Baum, fahren ihn zur Ortschaft und rammen ihn auf dem Platz vor der Kirche in den Boden. Das ist eine Provokation. Die Bauern wissen es, oder sie wissen es nicht, quién sabe? Der Baum durchstößt die lebende Erde, sein Wipfel schwebt hoch über dem Kirchenportal, ragt in den Himmel, gigantisch. Am Sonntag kommen die Indianer, festlich gekleidet, aus den umliegenden Dörfern. Sie gehören dem Stamm der Totonaken an. Sie setzen sich auf die Treppen der Kirche – kehren der Kirche den Rücken zu und warten auf das Schauspiel. Nun erscheinen die Tänzer und klettern den Baum empor. Auf dem Wipfel ist eine drehbare Plattform aus Holz angebracht. Die vier Tänzer und der Musiker werden an den Seilen befestigt. Der Musiker trägt ein buntes Kostüm aus roter und blauer Kunstseide, einen Kopfputz mit bunten Bändern und kleinen Spiegeln. Die Tänzer sind außer dem Lendenschurz nackt. Ihr Haar schmückt eine Federkrone, an ihren Schultern, Armen und Fußgelenken sind Adlerfedern befestigt. Ihr Gesicht ist ockergelb bemalt, ihre Brust rot. So wurden die Opfersklaven geschmückt, die man einst auf den Stufen des Teocalli – der heiligen Pyramide – der Sonne opferte. Die Tänzer stellen die Adler dar. Der Musiker hat eine Flöte bei sich – eine Chimiria. An seinem Finger, unter der Flöte, hängt eine kleine Trommel, die er mit seiner freien Hand schlägt.
Nun beugt er sich zu den vier Winden, ruft sie mit seiner Flöte an und gibt das Signal. Die Plattform dreht sich; die vier Tänzer, festgehalten von Seilen, werfen sich in die vier Himmelsrichtungen. Sie stürzen sich in den Raum, sie kreisen, trunken vor Licht und Luft. Sie fliegen und spüren die Freiheit der Adler. Die Seile bringen sie zum Boden herab, in langsamen, vornehmen Gleitbewegungen, während der Musiker, hoch oben auf der Plattform, den Gott anruft. Seine braunen Finger tanzen über die Flöte, die Trommel pocht – ton-ton-ton – und die Adler drehen ihre Runden. Sie hängen mächtig und stark am Himmel, spüren den Luftstrom an ihrem nackten Körper, das Sausen des Windes in ihrem Gefieder. Sie bewegen sich in der Luft, gleich Schwimmern in einem Strom. Sie wirbeln um sich selbst, gleiten hinauf, tauchen hinab, aber immer von den Seilen gehalten.
In ihren Träumen erleben sie die Freiheit, aber ihr Körper hängt an dem Seil. Vielleicht wollen sie sterben, in diesem Augenblick. Vielleicht sehnen sie sich nach dem Tod, wer kann es sagen? Ihre Gesichter sind entrückt, in Ekstase, wie in der Liebe. Sie trotzen Naturgewalten mit Musik, mit der Hingabe ihres Körpers. Das großartige Gefühl der Freiheit ist ein Beschwörungsakt, eine Illusion. Von der wirklichen Freiheit, der Freiheit der Adler, können sie nur träumen. Und siehst du, Ariana, ich verstehe ihn
– den anderen, den du liebst. Ich verstehe Amadeo. Auch er hat seinen Träumen eine Grenze gesetzt, den Kreis der Manege. Den Kreis der
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