Feuerfrau
verwaltete den ganzen Betrieb, war von früh bis spät auf den Beinen; trotzdem hatte sie immer Zeit für mich. Sie machte lange Spaziergänge mit mir, rund um unsere Felder. Sie lehrte mich, alles ganz genau zu betrachten. Sie nahm einen Klumpen Erde in die Hand und sagte: ›Siehst du, Piccina? Hier ist nicht nur Erde, hier sind Wurzeln, Insekten, Keime, Steinchen, Mineralien. Jede Handvoll Erde ist eine kleine Welt für sich.‹ Sie erzählte mir alte Legenden, nannte mir die Namen der Sternbilder, zeigte mir, wo Sonne und Mond am Horizont auf- und untergehen und wie sie das Wachstum der Pflanzen beeinflussen. Und wenn ich daran denke, wie ausgefüllt ihre Tage damals waren, so frage ich mich, welche Liebe sie für mich empfunden haben muß, daß sie soviel Zeit damit verlor, mir die Welt zu zeigen.«
Ich war völlig in Gedanken versunken und sprach, als ob ich laut dachte.
Manuel hörte still zu; bei meinen letzten Worten hob er lebhaft den Kopf.
»Sie hat ihre Zeit nicht verloren. Sie machte dich stark, für das ganze Leben.«
»Vieles habe ich vergessen, das ist sehr schade.«
»Nein. Die Erinnerung ist immer da, auch wenn du meinst, daß sie verschwunden ist.«
Ich atmete tief ein.
»Im Augenblick kann ich das nicht beurteilen. Mir geht zuviel im Kopf herum. Ich möchte ganz unterschiedliche Dinge gleichzeitig haben.
Irgendeine Sache werde ich opfern müssen.«
Er schenkte mir mit den Augen so viel Wärme, daß es mir eng in der Kehle wurde.
»Sei ruhig. Ich bin ja bei dir.«
Was wollte er damit sagen? Ein plötzlicher Schrecken stieg in mir hoch, überschwemmte mich wie eine Hitzewelle. Doch als ich ihm wieder mein Gesicht zuwandte, hörte ich, wie er leise und entspannt vor sich hin summte. Es war dieselbe Melodie, die er gestern gesungen hatte, »La Malaguena«.
Wir fuhren an den ersten Steinhäusern vorbei; schwarzblaue Trauben hingen an den Weinstöcken. In der Ebene waren die Reben bereits entlaubt, während am Berghang Frauen und Mädchen noch dabei waren, das überflüssige Laub um die Blätter wegzuschneiden. Die Trockenheit hatte die Wiesen verdorrt. Der Wildbach war zu einer dunkelgrünen Schleife auf dem weißen Kies ausgetrocknet, und die Schatten unter den Kastanienbäumen waren schmal. Eine Zeitlang kroch ein Lastzug, mit Heu beladen, vor uns um die Kurven, dann überholten wir zwei Traktoren. Ein Autobus kam uns hupend entgegen. Die braungefleckten Bergkuppen waren jetzt ganz nahe. Silberdisteln wuchsen am Wegrand. Jetzt eine Kurve, dann noch eine. Der »Campanile« kam in Sicht, das Dorf kehrte zurück, mit der Illusion immerwährender Kindheit. Eine Illusion, die auf dem Grunde meiner Seele eine Ablagerung von Schmerz hinterlassen hatte, wie Asche über einem glimmernden Feuer. Mit diesem Schmerz hatte ich lange gelebt, irgendwie mußte ich dem jetzt ein Ende setzen. Und mir war, als hätte ich meine ganze Kraft dazu verwendet, an diesen Ort zu gelangen.
»Wir sind da«, sagte ich.
30. KAPITEL
I m Schatten der Korkeichen und Roßkastanien führte die Straße in Kurven nach oben. Bald erreichten wir das Dorfzentrum. Montereale Celina zeigte sich heiß und geschäftig, alle Läden waren offen, die schräge Sonne teilte die Straßen in zwei Hälften aus Licht und Schatten. Kleine Wolken, weiß im Gegenlicht, flimmerten am Himmel. Das tiefgrüne Laub in den Gärten war stellenweise staubig und gelb. Und plötzlich lag das Dorf hinter uns, wir fuhren den Hang hinauf, den Bach entlang. Zwei Jungen auf einem Motorroller betrachteten neugierig das französische Nummernschild.
Eine Katze lief über die Straße. Dann kam die alte Mauer in Sicht, das große Tor. Ich stellte das Auto ab; wir stiegen aus. Ich streckte mich, atmete ein paarmal tief ein und aus. Von den Bergen her wehte eine andere Luft, kühl, hell und rein. Es roch nach Wasser, verbranntem Holz und frischem Brot.
»Eigentlich hat sich nicht viel verändert«, stellte ich fest.
An den Zweigen des Feigenbaumes, oben an der Mauer, hingen zwei pralle Früchte. Sie wuchsen zu hoch, als daß die Kinder sie pflücken konnten. Ich gab Manuel einen Wink. Er faßte mich an der Taille, hob mich hoch. Ich langte nach den Feigen, pflückte beide. Wir schälten die Früchte, sie waren überreif, voller Zucker und süß wie Honig. Ich lächelte Manuel an.
»Gut, nicht?«
Wir wuschen unsere klebrigen Hände im Bach; das Wasser, klar wie Kristall und eiskalt, strömte über die giftgrünen Algen.
»Der Bach kommt direkt aus dem
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