Feuerfrau
dem Lieferwagen holen. Lina versprach, darauf zu achten, daß sie mit den Sachen sorgfältig umgingen. Und wenn es dem Herrgott beliebte, sie zu sich zu rufen – immerhin sei sie über achtzig –, würde Bianca, ihre Tochter, die Möbel aufbewahren. Ich sagte, wenn sie einige Dinge aus Casa Monte für sich selbst wünsche, solle sie mit meinem Vater darüber reden.
Wir sprachen noch eine Weile über Linas Familie, dann über die Nachbarn; ob sie noch lebten, was aus ihren Kindern geworden war. Ich wollte bei der alten Frau nicht den Eindruck erwecken, daß ich an ihrem Leben keinen Anteil nahm.
Schließlich fragte Lina, ob wir zum Essen blieben. Sie würde uns Tortelli machen, mit Käse und Spinat gefüllte Teigtaschen. Manuel und ich lehnten ab; wir hatten noch eine lange Reise vor uns. Lina schenkte uns eine Flasche Spumanti, umarmte und küßte uns, wobei ihr Unterkiefer leicht zitterte. Wie sie dort vor der Tür stand, eine dünne schwarze Gestalt im Sonnenlicht, sah sie unendlich alt und verbraucht aus. Ich winkte ihr zu, mit Wehmut im Herzen, bis der Weg eine Kurve machte und wir sie aus den Augen verloren. Möglicherweise hatte ich sie heute zum letzten Mal gesehen.
Der Wagen hielt vor Casa Monte. Manuel stellte den Motor nicht ab.
Wir hatten das Tor offengelassen. Ich stieg aus, schob beide Torflügel zu, verriegelte sie und drehte zum letzten Mal den Schlüssel im alten Schloß.
Wegfahren, diesmal für immer; es war, wie das Herkommen, ein Schock.
Aber das Leben würde weitergehen, irgendwie. Und Manuel war da. Mit ihm würde ich es schon überstehen. Ich fühlte Dankbarkeit, und es tat mir leid, daß ich es ihm noch nicht gesagt hatte. Bald, dachte ich, werde ich genügend Zeit dafür haben. Aber vorerst wollte ich mir eine kleine Atempause gönnen, nichts mehr bedenken, vielleicht auch ein wenig schlafen, während Manuel fuhr, nicht lange.
Außer Nonnas Porträt hatte ich nichts mitgenommen. Die Orte meiner Kindheit würde ich nur noch im Traum aufsuchen. Und so sollte es auch sein.
Den Blick auf das Tor gerichtet, machte ich ein paar Schritte rückwärts.
Der alte Feigenbaum hing über die Mauer; im Gegenlicht sah ich ihn nur als Umriß, düster und farblos. Die letzten Feigen hatten süß geschmeckt, süß mit einem Vorgeschmack von Fäulnis. Es gab keinen Atem mehr in Casa Monte, keine Wärme und auch keinen Herzschlag. Eine Wiederbelebung mochte stattfinden; sie würde mich unbetroffen lassen.
Kein langer Abschied also. Ich hob den Arm mit kräftigem Schwung, warf den Schlüssel über die Mauer. Von der anderen Seite kam ein Klirren.
Der Schlüssel mußte eine Glasscherbe oder ein Stückchen Metall getroffen haben. Aufgeschreckt durch das Geräusch, lief ein Eichhörnchen über die Mauer, sprang an dem Feigenbaum empor. Die Blätter raschelten und zuckten; dann wurde der Baum wieder still, unbeweglich in der Sonne brütend. Ich warf mein Haar aus dem Gesicht, ging auf den Wagen zu und stieg ein. Der Lärm der zugeschlagenen Tür hatte etwas Endgültiges an sich. Wortlos setzte Manuel den Peugeot in Bewegung, fuhr die Straße entlang, talabwärts. Hinter mir blieb meine Kindheit zurück; starrte mir nach, mit toten Augen. Ich drehte mich kein einziges Mal nach ihr um.
32. KAPITEL
D er Oktober war blau und klar, mit einem Nachgeschmack nach Sommer. Der Geruch von gerösteten Kastanien stieg von kleinen Öfen auf, das welke Laub raschelte. Alte Menschen saßen auf Bänken und genossen die Wärme, Kinder leckten Eis. Vor den Cafes standen die Tische draußen, die Mädchen trugen Shorts, ihre Mütter bereits Pullover. Die Tage waren kürzer geworden; schon um fünf flackerte Neongeflimmer über Straßen und Autos; ein goldener Himmel spiegelte sich in den erleuchteten Schaufenstern. Der Verkehr brauste, die Seine strömte rascher. Die Straßen waren oft derart verstopft, daß ich es vorzog, den Wagen in der Garage zu lassen und mit der Metro zu fahren. Auf meinem Schreibtisch lagen Stöße von unbearbeiteten Akten, die auf geheimnisvolle Weise über das Wochenende dort gelandet waren. Ich blätterte in den Mappen, starrte auf meinen PC-Terminal. Alain stürmte in mein Büro, setzte sich auf den freien Stuhl hinter meinem Schreibtisch und sprach vom Ätna wie ein Junge, der sich auf das Weihnachtsfest freut.
»Catania hat ein Fax geschickt: In Zafferana Etnea bebt die Erde. Keine große Sache, aber die Bewohner belagern die Chiesa Madre, zünden Kerzen an und beten.«
Das Dorf Zafferana
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