Feuerfrau
wissen«, sagte Manuel. »Sie haben viele Gründe dafür. Es wäre schön, wenn wir soviel Glauben hätten, daß wir sagen könnten: Heute ist ein guter Tag zum Sterben.« Er legte den Kopf zurück, schüttelte sein salzverklebtes Haar, wie um die Müdigkeit loszuwerden.
»Man erzählt sich – und ich habe keinen Grund, es zu bezweifeln –, daß ein Oberhaupt der Sinti sich in seiner Sterbestunde an eine Buche fesseln ließ. Seiner Sippe befahl er, ein Fest zu feiern. Als das Fest am schönsten war und die Mädchen im Feuerschein tanzten, schloß er die Augen und starb. So möchte auch ich die Welt verlassen: aufrecht, unerschrocken und im Bewußtsein, daß ich nie etwas getan habe, was ich bei meinem letzten Atemzug noch bereuen müßte.« Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse auf den Tisch. Dann ging er zum Kamin, wo einige Holzscheite aufgeschichtet waren. Er zerknüllte eine Zeitung, schnippte ein Streichholz.
Rasch und geschickt entfachte er ein kleines Feuer, schob ein paar Scheite in die Glut. Als die Flammen beständig loderten, richtete er sich geschmeidig auf. Mit rascher Bewegung glitt seine Hand an seine Gesäßtasche. Ich hörte das leise Klicken, als er mit dem Daumen auf das Messer drückte und die Klinge herausschnellte. Sie war lang, dünn, leicht gebogen wie eine Sichel oder wie das Horn eines Stieres. Mein Atem setzte kurz aus; als ob das Messer eine Wunde in mir öffnete, grub sich dieser Augenblick tief in mir ein. Was jetzt geschah, konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Manuel betrachtete interessiert das Messer. Der alte Griff war an einer Schnur aus Pferdehaaren befestigt, auf besondere Art geflochten.
»Wozu diese Schnur?« fragte er.
Amadeo ließ die Schnur durch seine gelenkigen Finger gleiten. »Wir nennen sie ›die Schnur der Ratte‹. Sie ist den Windungen der Ratte nachempfunden, die in die Erde hinabsteigt, in das Labyrinth. So sagen die Patriarchen, aber viele Dinge behalten sie für sich. Und nur die Großmütter kennen den Rhythmus der drei Pferdehaare, das Drehen, Wickeln und Verweben, den uralten Rhythmus des Flechtens. Diese Schnur hat Lola für mich gemacht.«
Manuel nickte leicht mit dem Kopf. Amadeo ließ ein paar Sekunden verstreichen und fuhr fort:
»Das Messer wird ›die Sonne‹ genannt. Der Schmied, der es anfertigte, war Kalderach, deshalb ist die Klinge gebogen. Ein Sinti hätte eine gerade Klinge geschmiedet. Solche Einzelheiten haben ihren besonderen Sinn.«
»Das Messer ist klein«, stellte Manuel fest.
»Ja, es soll handlich sein, weil der Romano es ja immer bei sich trägt.
Jeder Vierzehnjährige bekommt es vom Oberhaupt des Stammes überreicht, wobei er sich verpflichtet, die Ehre seines Messers zu wahren.
Man nimmt an, daß er alt genug ist, um diese Dinge zu verstehen. Das Messer ist eigentlich ein Werkzeug, für das Wohlergehen der Gemeinschaft von Bedeutung. Darüber hinaus weiß der Romano, daß es eine Seele hat und einen Eigenwillen, und daß der Mensch darauf eingehen muß, wie der Reiter auf sein Pferd. Man darf der Klinge keine Schande machen. Anders gesagt: Der Romano darf sie nie zum Töten gebrauchen, es sei denn, sein Leben ist in Gefahr. Hat ›die Sonne ‹ einmal getötet, ist sie verunreinigt; die Harmonie der Sippe ist gestört. Das Messer muß begraben werden, damit die Erde es läutert.«
»Und was geschieht mit dem Besitzer?«
»Vor hundert Jahren hätte er sich entehrt gefühlt und seinen Stamm freiwillig verlassen. Heutzutage hat er vielleicht ein paar Gewissensbisse.
Und redest du mit Jean über solche Dinge, sagt er ›Bullshit‹. So ändern sich die Zeiten…«
Amadeo zog die Schultern hoch und sprach weiter.
»Mit der ›Sonne‹ kann ein Romano einen Fremden zu seinem Blutsbruder machen. Zwar sollte die Zeremonie in Anwesenheit der Sippe vorgenommen werden, aber diese Sache ist zwischen dir und mir. Wer Kenntnis von den Dingen hat, wird die Zeichen schon deuten.«
Schweigen. Manuel wartete. Amadeos dunkle Lippen kräuselten sich spöttisch.
»Bist du bereit? Du kannst auch nein sagen, und ich werde mir deswegen keinen Strick um den Hals binden. Schwul bin ich auch nicht, damit du Bescheid weißt. Und den Aids-Test habe ich vor ein paar Monaten gemacht. HIV-negativ, du hast mein Wort. Genügt dir das?«
Fältchen zeigten sich in Manuels Augenwinkeln. Das Lächeln, das ich so liebte, erschien auf seinem Gesicht.
»Das genügt.«
»Gut.«
Amadeo wandte sich mir zu.
»Eigentlich verlangt der Brauch,
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