Feuerfrau
handelte sich nicht um eine Tonbandaufnahme: Der Gong wurde im Zelt selber geschlagen. Wir sahen es, als wir eintraten, und ich dachte, das ist neu. Auf einem Holzpodest stand ein Asiate im weißen Gewand, ließ mit wundervollen, harmonischen Bewegungen den Schlegel auf die Bronzescheibe fallen. Einsam stand er im Helldunkel des Riesenzeltes, ein weißleuchtender Dämon, der Himmel und Erde erweckte.
Das Zelt selbst war das Reich der Schatten und Schemen, ein turmhoher Raum, in dem die Sitzreihen sich wie die Rippen einer Riesenmuschel spiralenförmig hoben. Und dort, wo sich in einem üblichen Zirkus die Manege befand, leuchtete still und schwarz eine kreisrunde Wasserfläche, in der sich Lichter wie silbrige Insekten spiegelten.
»Wundervoll!« flüsterte Jorge, und seine leise Stimme war das Echo meiner eigenen Gedanken.
Wir stiegen die steilen Bretterstufen hinauf; unsere Sitze befanden sich im unteren Teil des Zeltes, gerade hoch genug, daß wir die Wasserfläche gut überblicken konnten. Es war recht kalt; ich war froh, daß ich den warmen Daunenmantel trug, der eigentlich für den Winter gedacht war.
Inzwischen strömten die Zuschauer durch die drei Eingänge herein, polterten über die Holzbretter, drängten sich auf die Sitze. Es war ein lebhaftes, gemischtes Publikum: viele junge Leute aus den Vororten, Eltern mit Kindern, aber auch Presse- und Fernsehleute, alle möglichen Künstler und nicht zu vergessen die übliche Schickeria – versnobte, verwöhnte Besucher jeder Pariser Premiere. Doch allmählich verstummte der Lärm zugunsten einer erwartungsvollen Stille. Die Gongschläge beruhigten die Zuschauer, warfen einen Bann auf sie. Der Schlegel sprach zu ihnen in einer Sprache, die sie nicht kannten. Einzig ihr Geist verstand, was er sagte: Schweigt! sagte der tiefe, orgelnde Brummton. Hier ist ein anderer Ort.
Eure Seele wird jetzt auf Wanderschaft gehen und erst dann zu euch zurückkehren, wenn wir es wollen…
Ich spürte die hypnotische Wirkung, die der Gong auf das Publikum ausübte, und lächelte still vor mich hin. Amadeo inszenierte niemals eine Pause. »Die Zuschauer können ja wohl neunzig Minuten stillsitzen, ohne ihre Blase entleeren zu müssen«, hattest du mir zur Antwort gegeben, als ich dich fragte, warum.
Inzwischen war das Zelt vollbesetzt. Der Gong, der alle Geräusche beherrschte, wurde allmählich leiser; mit dem verklingenden Schall wurde auch das Licht schwächer. Der weißgekleidete Musiker tauchte in die Dunkelheit ein, gleichsam verschwindend mit dem Verstummen der Töne.
Für eine kurze Weile wurde es völlig schwarz im Zelt. In dieser Finsternis wurden Bewegungen sichtbar. Geheimnisvolle Gestalten nahmen auf einer Art Bühne Platz. Plötzlich schimmerte goldenes Licht: Aus den Zelteingängen traten drei Zigeunermädchen. Ihre Kleider waren über die Hüften zusammengerafft, ihre braunen Beine bis zu den Knien entblößt.
Jedes Mädchen trug in der Armbeuge einen flachen Korb. Langsam, graziös, wanderten sie auf bloßen Füßen in das Wasser; man sah, daß es nur knöcheltief war. In ihrem Korb trugen sie kleine, bootsförmige Strohgeflechte, in denen ein Hanfstengel angebracht war. Die Mädchen zündeten die Hanfstengel mit einem Streichholz an, bückten sich wie Gazellen und überließen die winzigen Kanus dem Wasser. Ein Flüstern ging durch die Zuschauer. Martin umfaßte meine Schultern und lächelte mir zu.
»Sehr ungewöhnlich und poetisch«, meinte er.
Ich antwortete nicht; sowohl die Stimme wie auch die Berührung empfand ich als störend, doch ich dachte: Wenn er sich nicht rührt, kann ich ihn vielleicht vergessen.
Die Mädchen verließen das Zelt; nur die Flämmchen schwammen auf der schwarzen Wasserfläche. Sobald sie niedergebrannt waren, erfaßte das Feuer das Stroh; die zierlichen Boote flackerten ein paarmal auf, wie Sterne, dann zerbarsten sie und sanken, und jede kleine Flamme erlosch auf diese Weise. Das letzte Kanu drehte sich leicht im Kreis; die winzige Flamme, von einer unsichtbaren Strömung erfaßt, zuckte ein paarmal unruhig auf, bevor sie endgültig erlosch. Dann brach ein geisterhaftes Plätschern die Stille: Ein Lichtschein teilte die Dunkelheit, und in der Mitte des Wassers stand ein einzelner Reiter.
Mein Atem stockte. Ich fühlte mich wie inmitten eines Wirbels, der sich schneller und schneller drehte, mich in die Tiefe meiner Vergangenheit zog. Das Pferd war ein Rappen, ungeheuer groß, mit wuchtigem Kopf und wallendem Schweif. In
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