Feuerfrau
Armen hegen, während die Zeit kommt und geht und jede Minute wegrafft. Wer weiß, wann ich dich wiedersehe?
An diesem Abend scheute Coralies Hengst, als das Mädchen auf seinem Rücken hing. Coralie wurde aus dem Sattel geschleudert, schlug schwer auf dem Boden auf, wurde sofort aus der Manege getragen. Ein wollüstiges Schaudern fuhr durch die Zuschauer. Ich kräuselte unfroh die Lippen. »Das Publikum will die Artisten sehen und wartet insgeheim darauf, daß sie sich das Genick brechen«, hatte Amadeo mir mal gesagt. »Dieser Wunsch lauert so tief, daß die Menschen ihn nicht wahrnehmen, aber sie warten darauf.
Sie sind versessen auf das Risiko, das andere Leute auf sich nehmen. Das ist es, was das Publikum will, daß die Artisten vor ihren Augen verrecken.
Dafür kommen sie in den Zirkus, dafür geben sie ihr Geld aus. Das ist schon immer so gewesen.«
Flüchtig verließ ich meinen Platz, zwängte mich durch den Sattelgang nach draußen. Die Mongolen in roten Pluderhosen standen mit ihren Pferden für den Auftritt bereit; die Tiere, glänzend wie frischgeschälte Kastanien, tänzelten und schnaubten in fieberhafter Spannung. Ihre Nüstern witterten die Ausdünstung des Publikums, die beweglichen Fellkegel ihrer Ohren erfaßten die erregten Tonschwingungen. Da gab die Trommel das Signal: Die Reiter sprangen auf den Rücken ihrer Pferde und schwangen –
aufrecht stehend – unter dem stürmischen Beifall der Menge ihre Standarten hoch über ihren Köpfen. Sie jagten an mir vorbei in die Manege.
Man hatte Coralie in Lolas Wohnwagen gebracht. Die Mädchen, die gerade als Andalusierinnen aufgetreten waren, drängten sich auf der Treppe, blaß unter ihrer Schminke und mit schwingenden Röcken. Ich zwängte mich durch sie hindurch. Coralie lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Pritsche, in einem Durcheinander von Kostümen, feuchten Handtüchern und Schminkutensilien. Wassilio war dabei, mit leichten, geschickten Griffen ihren geschwollenen Fuß mit einer Salbe zu bestreichen. Lola hatte Teewasser aufgesetzt und nickte mir aufatmend zu.
»Zum Glück nur eine Verstauchung. Ein paar Tage Ruhe, und alles wird wieder gut.«
»Diese Akrobatin zu Pferd!« sagte ich. »Wie konnte ihr das passieren?«
Lola zuckte mit den Schultern.
»Ich fiel achtmal in meinem Leben, und das ist nicht viel. Ich kenne Leute beim Zirkus, die sich fünfzehn- oder sechzehnmal die Knochen brachen. Woran liegt es? An vielem. Aber meistens an einem selbst.«
Sie goß Tee auf, brachte Coralie das heiße Getränk in einem Becher.
Coralie setzte sich ächzend auf. Sie erblickte mich, zog die Augen zu schwarzen Schlitzen zusammen und zischte wutentbrannt:
»Fous le camp, salope! C’est ta faute. – Hau ab, du Schlampe! Es ist deine Schuld.«
Ich spreizte hilflos die Finger. Ich wollte etwas sagen, doch Lola bedeutete mir mit einem Blick, zu schweigen. Coralie warf sich ächzend hin und her, das schwarze Haar zu Schlangen geringelt Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn, Lola wischte ihr das Gesicht mit einem Handtuch ab, das von der Farbe der Brauen und Lippen befleckt war. Wassilio brummte verärgert, sie solle sich ruhig verhalten, sonst könne er den Fuß nicht verbinden. Coralie warf sich schluchzend auf die Pritsche zurück, und Lola zupfte mich am Arm. Wir verließen den Wohnwagen. Vom Zelt aus war die Musik, die Trommeln, die Laute, die Zymbeln, bis zu dem schrillen Pfeifen der Flöte zu hören. Der Beifall des Publikums rauschte wie eine Brandung über den Platz.
Lola umfaßte mütterlich meine Schultern.
»Mach dir nichts draus, Pitchounette. Es ist ja nichts Ernstes. Und, was das andere betrifft, nun, es soll ihr eine Lehre sein.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ein Sündenbock muß ja her.« Lola hatte ein blinzelndes Lächeln, das in seiner zärtlichen Nachsicht ebenso wissend war wie das von Wassilio.
»Daß sie wütend und eifersüchtig ist, ist ihre Sache. Nur machte sie den Fehler, ihren Unwillen an dem Pferd auszulassen. Und Hussein hat sich gewehrt.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Es braucht dir nicht leid zu tun. Coralie muß ihr Handwerk lernen – Du hast ihr dabei geholfen. Sie wird diesen Fehler kein zweites Mal machen.«
Ich lächelte, wenn auch nur flüchtig. Der Zirkus hatte seine eigenen Regeln, zerstörte festverwurzelte Ordnungen und erschütterte altgewohnte Wertvorstellungen. Die Gesetze des Fahrenden Volkes mochten grausam anmuten. Doch die Arbeit in der Manege, der Umgang mit den Tieren
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