Feuerkind
zu sehen, und die Nacht schien ungewöhnlich dunkel. Sie setzten sich einen Augenblick und lauschten dem Geplätscher des Baches. Er nahm Charlies Hand, und eben jetzt fing sie an zu weinen – ein lautes, herzzerreißendes Schluchzen.
Er nahm sie in die Arme und wiegte sie. »Charlie«, murmelte er. »Charlie, Charlie, nein. Du darfst nicht mehr weinen.«
»Bitte, Daddy, laß es mich nie wieder tun«, schluchzte sie. »Denn wenn du es mir sagst, tu ich es, und dann würde ich mich wahrscheinlich umbringen. Bitte … bitte … nie …«
»Ich hab’ dich doch so lieb«, sagte er. »Sei ruhig und sprich nicht mehr davon, daß du dich umbringen würdest. Das ist verrücktes Gerede.«
»Nein«, sagte sie.
»Das ist es nicht. Versprich es mir, Daddy.«
Er dachte lange nach und sagte dann langsam: »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Charlie. Aber ich will es versuchen. Das verspreche ich dir. Bist du damit zufrieden?«
Ihr trauriges Schweigen war Antwort genug.
»Auch ich habe Angst«, sagte er leise. »Auch Daddys können Angst bekommen. Das darfst du mir ruhig glauben.«
Auch diese Nacht verbrachten sie im Willys. Um sechs Uhr morgens waren sie wieder unterwegs. Die Wolken waren aufgerissen, und gegen zehn Uhr war es ein herrlicher Frühherbsttag. Kurz nachdem sie die Grenze nach Vermont überquert hatten, sahen sie Männer auf Leitern in den Apfelbäumen, und überall in den Obstplantagen standen Lastwagen, mit Apfelkisten voll beladen.
Um halb zwölf bogen sie von der Route 34 in einen ausgefahrenen Feldweg ein, den ein Schild als PRIVATGRUNDSTÜCK bezeichnete, und Andy fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatten es geschafft. Sie hatten Großvater McGees Grundstück erreicht.
Langsam fuhren sie auf den See zu, der etwa anderthalb Meilen entfernt lag. Rot und golden wirbelten Oktoberblätter vor der platten Nase des Jeeps. Sie sahen hier und da schon das Wasser durch die Bäume schimmern, als sich der Weg gabelte. Eine schwere Stahlkette versperrte die schmalere Abzweigung, und an dieser Kette hing ein angerostetes gelbes Schild: BETRETEN VERBOTEN. DIE ÖRTLICHE POLIZEIBEHÖRDE. Die Rostflecken hatten sich um sechs oder acht Dellen im Metall gebildet, und Andy nahm an, daß irgendein Besucher aus Langeweile das Schild mit seinem Kleinkalibergewehr bepflastert hatte. Aber das war vor Jahren gewesen.
Er stieg aus dem Willys und nahm sein Schlüsselbund aus der Tasche. Es trug einen Lederanhänger mit seinen Initialen. AMcG, die Buchstaben waren kaum noch zu erkennen. Vicky hatte ihm den Anhänger einmal zu Weihnachten geschenkt -Weihnachten zuvor war Charlie geboren worden.
Er stand einen Augenblick vor der Kette und betrachtete erst den Lederanhänger, dann die Schlüssel. Es waren fast zwei Dutzend. Schlüssel sind seltsame Gegenstände. An den Schlüsseln, die sich an seinem Bund angesammelt hatten, konnte er sein ganzes Leben ablesen. Wahrscheinlich warfen Leute mit mehr Organisationstalent als er einfach ihre alten Schlüssel weg, genauso wie diese Typen etwa alle sechs Monate ihre Brieftaschen ausmisteten. Andy hatte beides nie getan.
Da war der Schlüssel zum Ostflügel der Prince Hall in Harrison, wo er sein Büro gehabt hatte. Da der Schlüssel zum Büro selbst. Zum Büro der Abteilung für Englisch. Da war der Schlüssel zum Haus in Harrison, das er zum letzten Mal am Tag der Ermordung seiner Frau und der Entführung Charlies durch die Leute von der Firma gesehen hatte. Zwei oder drei andere konnte er nicht mehr identifizieren. Schlüssel waren schon seltsame Gegenstände.
Seine Vorstellungen verschwammen. Plötzlich vermißte er Vicky, und sie fehlte ihm so sehr, wie sie ihm seit jenen ersten entsetzlichen Tagen der Flucht mit Charlie nicht mehr gefehlt hatte. Er war müde, er hatte Angst, und er empfand eine grauenhafte Wut. Wenn in diesem Augenblick die Männer von der Firma auf Großvaters Weg vor ihm gestanden hätten, und jemand hätte ihm eine Thompson-Maschinenpistole gereicht …
»Daddy?« Es war Charlies besorgte Stimme. »Kannst du den Schlüssel nicht finden?«
»Ich habe ihn schon«, sagte er. Es war ein kleiner Yaleschlüssel, in den er mit dem Taschenmesser die Buchstaben T P -Tashmore Pond – geritzt hatte. Sie waren zuletzt in Charlies Geburtsjahr hiergewesen, und Andy mußte den Schlüssel einige Male hin und her bewegen, bis sich die Verriegelung bewegen ließ. Dann sprang das Schloß auf.
Er fuhr mit dem Willys durch, hielt an und schloß die Kette wieder.
Der Weg war in
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