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Feuerkind

Feuerkind

Titel: Feuerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Katastrophe geworden wäre. »Vielleicht hast du recht. Aber ich hatte keine Gelegenheit, viel nachzudenken, Charlie. Ich konnte nur daran denken, wie wir weiterkommen. Wie kann man viel nachdenken, wenn man auf der Flucht ist … meistens sind es dumme Gedanken. Ich habe immer gehofft, daß sie aufgeben und uns in Ruhe lassen würden. Das war ein schrecklicher Fehler.«
    »Sie werden mich doch nicht zwingen wegzugehen?« fragte Charlie. »Von dir, meine ich. Wir können doch zusammenbleiben, nicht wahr, Daddy?«
    »Ja«, sagte er, denn er wollte ihr nicht erzählen, daß er wahrscheinlich genausowenig wie sie wußte, was geschehen würde, wenn die Briefe ihre Empfänger erreicht hatten. Man mußte abwarten.
    »Dann ist mir alles andere egal. Und ich werde auch kein Feuer mehr anzünden.«
    »Schon gut«, sagte er und strich ihr übers Haar, und er konnte kaum weitersprechen, weil ihn plötzlich wieder die Angst befiel vor dem, was kommen konnte, und plötzlich dachte er an etwas, das hier in der Nähe geschehen war und an das er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Er war mit seinem Vater und seinem Großvater draußen gewesen, und Großvater hatte ihm sein zweiundzwanziger Gewehr, das er seine Diebsflinte nannte, gegeben, als Andy darum gebettelt hatte. Andy hatte ein Eichhörnchen gesehen, das er schießen wollte. Sein Vater hatte protestieren wollen, doch Großvater hatte ihn mit einem eigenartigen Lächeln zum Schweigen gebracht.
    Andy hatte gezielt, wie Großvater es ihm gezeigt hatte; er suchte den Druckpunkt, anstatt ruckartig abzudrücken (was Großvater ihm ebenfalls beigebracht hatte), und er schoß das Eichhörnchen. Es purzelte von seinem Ast herab wie eine ausgestopfte Puppe. Andy reichte Großvater das Gewehr und rannte aufgeregt hin. Dann stand er sprachlos vor dem, was er angerichtet harte. Aus der Nähe war das Eichhörnchen keine ausgestopfte Puppe. Es war nicht tot. Er hatte es hinten getroffen, und nun lag es sterbend in seinem hellroten Blut. Seine schwarzen Augen waren wach und lebendig, und man sah in ihnen, wie schrecklich das Tier litt. Seine Flöhe, die die Wahrheit schon kannten, verließen eilig den kleinen Körper.
    Er hatte trocken geschluckt, und mit seinen neun Jahren erlebte er zum ersten Mal ganz deutlich das Gefühl des Ekels vor sich selbst. Wie betäubt starrte er auf sein blutendes Opfer, und er wußte, daß sein Vater und sein Großvater hinter ihm standen, daß ihre Schatten über ihm lagen – drei Generationen McGee standen über einem ermordeten Eichhörnchen irgendwo in den Wäldern von Vermont. Und hinter ihm sagte Großvater leise: Du hast es getan, Andy. Wie gefällt es dir? Und dann waren plötzlich die Tränen gekommen, hatten ihn überwältigt, heiße Tränen des Entsetzens und der Erkenntnis – der Erkenntnis, daß einmal Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann. In diesem Augenblick schwor er, daß er nie wieder mit dem Gewehr etwas töten würde. Er schwor es vor Gott. Ich werde keine Feuer mehr anzünden, hatte Charlie gesagt, und in Gedanken hörte Andy Großvaters Antwort an dem Tag, als er das Eichhörnchen geschossen hatte. Das darfst du nie sagen, Andy. Gott läßt die Menschen gern ihre Schwüre brechen. Dann betrachten sie ihren Standort in der Welt und ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung mit der gebotenen Demut. Ähnlich hatte Irv Manders zu Charlie gesprochen.
    Charlie hatte auf dem Dachboden ein paar Bücher über Bomba, den Dschungelboy, gefunden, die sie langsam, aber genau durchlas. Andy saß in dem alten schwarzen Schaukelstuhl in der Sonne, in deren Strahlen der Staub tanzte, und schaute zu ihr hinüber. In diesem Stuhl hatte Großmutter immer gesessen, meistens mit ihrem Flickkorb zwischen den Füßen. Er kämpfte mit dem Impuls, Charlie zu bitten, den Schwur zurückzunehmen, ihn zurückzunehmen, solange es noch möglich war, ihr zu sagen, daß sie von der schrecklichen Versuchung keine Ahnung hatte: wenn ein Gewehr lange genug irgendwo liegt, wird man es früher oder später aufnehmen. Gott läßt die Menschen gern ihre Schwüre brechen.
8
    Niemand sah Andy seine Briefe einstecken außer Charles Pay-son, der Mann, der im November nach Bradford gezogen war und der seitdem versucht hatte, den alten Laden von Bradford wieder in Gang zu bringen. Payson war ein kleiner Mann mit einem traurigen Gesicht, der schon mal versucht hatte, Andy bei einem seiner Stadtbesuche einen Drink auszugeben. In der Stadt selbst erwartete man, falls Payson

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