Feuerkind
Wahrheiten. In gewisser Weise war Charlie eine Mißgeburt, nicht sehr verschieden von den Contergan-geschädigten Kindern aus den Sechzigern oder den Töchtern der Mütter, die DES genommen hatten; die Ärzte hatten einfach nicht gewußt, daß diese Mädchen in abnormer Häufigkeit schon im Alter von vierzehn oder sechzehn Jahren Vaginaltumore entwickeln würden. Es war nicht Charlies Schuld, aber das änderte nichts an der Tatsache. Nur, das Seltsame, das Abnorme an ihr war nicht äußerlich sichtbar. Was sie auf der Mandersfarm getan hatte, war entsetzlich, wirklich entsetzlich, und seitdem hatte Andy sich oft gefragt, wie weit ihre Fähigkeiten eigentlich reichten, wie weit sie reichen könnten. Er hatte eine Menge Literatur über Parapsychologie durchgearbeitet, seit sie sich versteckt hielten, genug um zu wissen, daß sowohl Pyrokinese als auch Telekinese vermutlich mit der Fehlfunktion gewisser Drüsen zusammenhing, über die man wenig wußte. Seine Lektüre hatte ihm auch gezeigt, daß beide Fähigkeiten eng verwandt waren und daß die meisten beschriebenen Fälle Mädchen betrafen, die nicht sehr viel älter waren als Charlie jetzt.
Im Alter von sieben Jahren war sie in der Lage gewesen, die Zerstörungen auf der Mandersfarm herbeizuführen. Jetzt war sie fast acht. Was könnte geschehen, wenn sie zwölf wurde und das Jungmädchenalter erreichte? Vielleicht nichts. Vielleicht sehr viel. Sie hatte versprochen, von ihrer Fähigkeit keinen Gebrauch mehr zu machen, aber wenn sie dazu gezwungen wurde? Was wäre, wenn es spontan geschah? Was, wenn sie im Schlaf Feuer anzündete, als Teil ihrer eigenen seltsamen Pubertät, ein feuriges Gegenstück zu den nächtlichen Samenergüssen, die fast alle Knaben in der Pubertät erlebten? Was, wenn die Firma sich am Ende entschloß, ihre Hunde zurückzupfeifen … und Charlie von einer fremden Macht gekidnappt wurde?
Fragen über Fragen.
Auf seinen Skiwanderungen über den See versuchte Andy, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, und widerwillig kam er zu der Überzeugung, daß Charlie sich wahrscheinlich mit irgendeiner Art lebenslänglicher Verwahrung würde abfinden müssen, und wenn auch nur zu ihrem eigenen Schutz. Es könnte für sie so nötig sein wie die grausamen Beinschienen für die Opfer von Muskelschwund oder die seltsamen Prothesen für Contergan-geschädigte Babys.
Dann war da noch die Frage seiner eigenen Zukunft. Er erinnerte sich an die tauben Stellen, an das blutunterlaufene Auge. Kein Mensch glaubt gern, daß sein Todesurteil datiert und unterschrieben ist, und Andy glaubte es auch noch nicht ganz, aber er war sich darüber klar, daß es ihn umbringen könnte, wenn er sich noch einige Male so völlig verausgabte, und er vermutete, daß seine normale Lebenserwartung schon jetzt erheblich verkürzt war. Falls das geschah, mußte für Charlie Vorsorge getroffen sein.
Aber nicht so, wie es sich die Firma vorstellte.
Sie würde nicht in jenen kleinen Raum gesperrt werden. Das wollte er um jeden Preis verhindern.
Er dachte darüber nach und kam zu einer schmerzlichen Entscheidung.
7
Andy schrieb sechs Briefe. Sie waren fast gleichlautend. Zwei waren an die beiden Senatoren von Ohio gerichtet. Einer an die Frau, die den Bezirk, zu dem Harrison gehörte, im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten vertrat. Einer ging an die New York Times. Einer an die Chicago Tribune. Der letzte schließlich war an die Toledo Blade adressiert. Alle sechs Briefe erzählten die ganze Geschichte, vom Experiment im Jason-Gearneigh-Gebäude bis zu seiner und Charlies erzwungener Isolierung am Tashmore-See.
Als er fertig war, gab er Charlie einen der Briefe zu lesen. Sie tat es langsam und sorgfältig und brauchte fast eine Stunde. Es war das erste Mal, daß sie die ganze Geschichte erfuhr.
»Willst du sie abschicken?« fragte sie, als sie fertig war.
»Ja«, sagte er. »Morgen. Morgen wird es wohl das letzte Mal sein, daß ich mich über den See wagen kann.« Es war etwas wärmer geworden. Zwar war das Eis noch fest, aber es knarrte ständig, und er wußte nicht, wie lange es noch halten würde.
»Und was geschieht dann, Daddy?«
Er schüttelte den Kopf. »Genau weiß ich es nicht. Ich kann nur hoffen, daß die Leute, die uns jagen, auf geben werden, wenn die Geschichte erst bekannt ist.«
Charlie nickte ernst. »Das hättest du früher tun sollen.«
»Ja«, sagte er und wußte, daß sie an den Zwischenfall auf der Mandersfarm im Oktober dachte, der fast zur
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