Feuerklingen (First Law - Band 2)
der Truppe ist vor dem Haus, kümmert sich um die Pferde und plant die Marschrichtung. Ich dachte, dir könnten noch ein paar Minuten unter der Decke ganz gut tun.«
»Danke.« Ein paar Stunden mehr wären ihm auch recht gewesen. Jezal bewegte die Zunge in seinem bitter schmeckenden Mund hin und her, leckte über die schmerzenden Löcher im Kiefer, über die wunde Kerbe an der Lippe und prüfte, wie stark der Schmerz an diesem Morgen war. Die Schwellung ging jeden Tag ein wenig mehr zurück. Allmählich gewöhnte er sich beinahe daran.
»Hier.« Jezal sah auf, als ihm Neunfinger ein Stück Zwieback zuwarf. Er versuchte es zu fangen, aber seine verletzte Hand war noch zu ungeschickt, und es fiel in den Dreck. Der Nordmann zuckte die Achseln. »Das bisschen Staub wird dir nicht schaden.«
»Das wird’s wohl nicht, das denke ich auch.« Jezal hob es auf, bürstete es mit dem Handrücken ab und nahm einen trockenen Bissen, wobei er vorsichtig darauf achtete, die gesunde Seite seines Mundes zu benutzen. Er warf seine Decke zurück, rollte sich auf die Seite und erhob sich mit steifen Gliedern.
Logen beobachtete ihn, als er probeweise einige Schritte machte, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, den Zwieback noch in einer Hand. »Was macht das Bein?«
»War schon schlimmer.« Es war auch schon mal besser gewesen. Er ging jetzt mit einem dämlichen Hinken, da er das verletzte Bein steif wegstreckte. Das Knie und der Knöchel schmerzten jedes Mal, wenn er sie belastete, aber er konnte gehen, und jeden Morgen war es ein bisschen besser. Als er bis zu der Rohsteinmauer gekommen war, schloss er die Augen und holte tief Luft, als wollte er halb lachen und halb weinen vor Erleichterung über das schlichte Glück, wieder auf eigenen Füßen stehen zu können.
»Von jetzt an will ich für jeden Augenblick dankbar sein, in dem ich in der Lage bin zu laufen.«
Neunfinger grinste. »Das Gefühl hält ungefähr einen Tag oder zwei, und dann meckerst du wieder über das Essen.«
»Das werde ich nicht«, sagte Jezal fest entschlossen.
»Na schön. Dann eine Woche.« Neunfinger ging zum Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raums und warf einen langen Schatten auf den staubigen Boden. »In der Zwischenzeit solltest du dir das hier mal ansehen.«
»Was denn?« Jezal humpelte neben Bruder Langfuß, der sich an die zernarbte Säule der Fensterfüllung lehnte, atmete heftig und schüttelte sein schmerzendes Bein. Dann sah er auf, und ihm klappte die Kinnlade hinunter.
Sie mussten sehr hoch oben sein. Hoch oben am Steilhang eines kleinen Berges vielleicht, der über die Stadt hinwegsah. Die gerade aufgegangene Sonne stand auf der Höhe von Jezals Augen und schien wässrig gelb durch den Morgendunst. Der Himmel war klar und blass, ein paar Fetzen weißer Wölkchen hingen beinahe still über der Stadt.
Selbst völlig verfallen und Hunderte von Jahren nach seiner Zerstörung bot Aulcus noch immer einen atemberaubenden Anblick.
Eingestürzte Dächer erstreckten sich bis in die weite Ferne, bröckelnde Mauern, die hell von der Sonne angestrahlt wurden oder in langen Schatten versanken. Herrschaftliche Kuppeln, schwankende Türme, geschwungene Bogen und stolze Säulen ragten inmitten der Trümmer auf. Er konnte Lücken ausmachen, vermutlich von großen Plätzen oder breiten Prachtstraßen, und den tiefen Einschnitt durch den Fluss, der sich sanft durch den steinernen Wald auf seiner Rechten schlängelte. Das Licht glitzerte auf dem eilenden Wasser. In jeder Richtung sah Jezal, so weit sein Auge reichte, nichts als nassen Stein, der in der Morgensonne glänzte.
»Und das ist der Grund, weshalb ich so gern reise«, hauchte Langfuß ergriffen. »Mit einem Schlag, mit einem Augenblick hat sich diese Reise jetzt gelohnt. Hat man schon je einen solchen Anblick geboten bekommen? Wie viele lebende Menschen ihn wohl überhaupt zu Gesicht bekommen haben? Wir drei blicken von diesem Fenster auf Geschichte, auf ein Tor in die lang vergessene Vergangenheit. Ich werde nicht länger von Talins träumen, schimmernd an einem roten Morgen über dem Meer, oder von Ul-Nahb, leuchtend an einem hellen Mittag unter der azurblauen Schüssel des Himmels, oder von Ospria, stolz an seinen Berghängen liegend und seine Lichter wie die Sterne in den sanften Abendhimmel schickend. Von diesem Tag an wird mein Herz auf ewig Aulcus gehören. Wahrlich das Juwel unter den Städten. Im Tode erhaben, sodass es mit Worten nicht zu beschreiben ist
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