Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
anzueignen, ist sinnlos. Du bist bereits
vollkommen erwacht, hier und jetzt. Es gibt nichts zu verstehen. Alles
Verstehen kommt aus dem Nichts. Es ruht selbstgenügsam in sich selbst, ein
Null-Zustand. Viel zu einfach für deinen dualen Geist. Du erschaffst dir die
Eins, um die Existenz der Null zu beweisen, die Zwei, um die Existenz der Eins
zu verstehen. Und so geht es weiter. Mit der Drei willst du die Zwei
bestätigen, mit der Vier die Drei. Dieses paradoxe Verhalten nennen wir
Samsâra, den täglichen Teufelskreis der Bestätigung unserer Existenz.
Was
kann ich tun, denkt Swensen. Wie kommt dieser Schrecken aus meinem Kopf, diese
immer wieder einstürzenden Türme.
Das
erneute Klingeln des Telefons holt ihn in den Raum zurück. Er vermutet, dass
Anna einen zweiten Versuch gestartet hat. Mit einem Ruck holt er sich aus
seiner Erstarrung und nimmt den Hörer ab.
»Stephan
hier, hallo Jan! Schlechte Nachrichten. Gerade soll jemand ’ne Hand in so einen
türkischen Laden in der Westerende geworfen haben.«
»Eine
Hand?«
»Ja,
’ne Hand, muss abgeschlagen worden sein. Da war ein Ausländer am Telefon,
wahrscheinlich Türke. Ich hab gleich Heinz Bescheid gegeben und der meinte, du
sollst auch kommen. Ich fahr jetzt rüber!«
»Das
ist ein dummer Scherz, Stephan! Bestimmt ’ne Gummihand aus dem Fasching!«
»Glaub
ich nicht. Der Mann hörte sich ziemlich neben der Spur an.«
»Solche
Gummihände sehen täuschend echt aus.«
»Fahr’n
wir einfach rüber, Jan! Bis gleich!«
Swensen
registriert, dass bei Stephan Mielke nichts Zögerliches mehr zu bemerken ist.
Das unsichere Auftreten aus seiner Anfangszeit bei der Kripo in Husum ist kaum
noch vorhanden. Einen kurzen Moment steht der Kommissar planlos im Wohnzimmer,
bis seine Energie langsam zurückkehrt. Er nimmt den Hörer von der Station und
tippt die Nummer von Anna ein. Das Klingelzeichen ertönt viermal, bevor der
Anrufbeantworter anspringt. Er legt genervt wieder auf.
Zwanzig
Minuten später parkt er seinen Polo in der engen Gasse Westerende, Ecke
Langenharmstraße. Schon beim Aussteigen sieht er ein ockergelb gestrichenes
Gebäude, das weiträumig mit rot-weißem Plastikband abgesperrt ist. Eine Schar
Neugieriger hat sich davor versammelt.
»Behindern
Sie nicht unsere Arbeit! Machen Sie den Bürgersteig frei!«, schnauzt der
breitschultrige Schutzpolizist die Gruppe an. Nur zögernd machen sie dem
Kommissar Platz. An der Ladentür steht Heinz Püchel und winkt Swensen zu.
»Gut,
dass du kommst, Jan! Ich möchte, dass du solange übernimmst, bis die Kollegen
aus Flensburg vor Ort sind.«
»Ist
Flensburg schon unterrichtet?«
»Natürlich!
Da drinnen liegt eine abgeschlagene Hand. Ich bin überzeugt, in absehbarer Zeit
werden wir den dazugehörigen Rest finden!«
»Ich
schau mir die Sache mal an«, sagt Swensen und geht hinein. Püchel bleibt direkt
hinter ihm. Der Raum ist mindestens hundertfünfzig Quadratmeter groß. Dichte
Zigarettenrauchschwaden ziehen unter der Decke entlang. Püchels Raucherhusten
ertönt mehrmals.
Nicht
gerade heimelig hier drinnen, denkt Swensen und lässt seinen Blick kurz über
die spartanische Einrichtung schweifen. In der rechten Ecke spricht Mielke mit
einem Mann mit Dreitagebart. Er trägt verwaschene Jeans und ein dunkelblaues
Hemd. Seine Lederjacke hat er locker über die Schulter gehängt. In einiger
Entfernung steht eine Schar Männer beisammen, die aufgeregt aufeinander
einreden. In der rechten Raumhälfte stehen mehrere quadratische Holztische.
Links hinten läuft ein Fußballspiel auf dem Fernseher, der Ton ist abgedreht.
Davor steht breitbeinig ein Schutzpolizist und beobachtet ein spindeldürres,
rothaariges Männchen mit Sommersprossengesicht, das mit einer Kamera einen
länglichen Tisch umkreist. In kurzen Abständen zucken Blitzlichter. Swensen
kann sich noch gut an den Mann erinnern, Richard Gerber. Er kennt den
Fotografen aus einem Mordfall im letzten Jahr, bei dem dieser die Bilder von dem
toten Videothekbesitzer Peters gemacht hatte. Als der Kommissar auf ihn
zukommt, hält Gerber einen Moment mit seiner Arbeit inne, nickt knapp zum Gruß
und richtet seine Kamera wieder auf den Tisch. Zwischen halbvollen Teegläsern
und Colaflaschen liegt eine Hand im Lichtkreis der Deckenbeleuchtung. Auf der
wachsbleichen Haut klebt verkrustetes Blut. Die grellen Lichtblitze verleihen
dem Ganzen immer wieder etwas Imaginäres. Es erscheint so, als wenn das
Stillleben extra für die Kamera arrangiert wurde.
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