Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
Plötzlich sieht er einen vermummten
Mann auf sich zukommen, fühlt noch einmal den Schlag in die Magengrube, eine
Explosion von Schmerz, spürt einen Stich in den Unterarm und wie der Nebel über
seinen Nacken die Augen erreicht.
Er
schüttelt sich, um den Horror loszuwerden, greift zur halbleeren Wasserflasche
und trinkt sie in einem Zug aus.
Seine
Erinnerungen bleiben wie aufgeweichter Papierbrei, wie ekelhafter Schleim. Er
sieht sich aus der Betäubung erwachen, sieht wie er den Raum zum ersten Mal
erblickt, brüllt vor Zorn, fühlt sein eingebildetes Organ. Die Tür wird
aufgerissen. Ein Mann mit einer Wollmütze über dem Kopf stürzt herein und
schlägt ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Er geht zu Boden. Der Fußtritt in
die Magengrube lässt seine Sinne schwinden. Als er wieder erwacht, stehen zwei
vermummte Männer im Raum. Am Boden liegt ein Foto. Er sieht das Bild und
nacktes Entsetzen steigt in ihm auf. Es zeigt seine Schwester Sena, im
Hintergrund ist das viereckige Minarett der Djamâa el Ghorba Moschee zu
erkennen.
»Du
erkennst Mädchen!«
»Woher
habt ihr das Bild?«
»Wir
haben es, mehr du nicht zu wissen brauchst! Nur dass wir genau wissen, wo
Mädchen zu finden ist!«
»Was
habt ihr mit meiner Schwester vor?«
»Nichts!
Du machst, was wir sagen, und alles wird bleiben so!«
»Gebt
meinem Vater Bescheid. Er hat Geld. Er wird euch ein Lösegeld bezahlen.«
»Du
Mund halten! Nur machen, was wir sagen! Hier du Bogen Papier und Bleistift. Du
schreiben Chef von dein Arbeit, Mutter sterben! Du auf Flugplatz in Hamburg und
nichts kannst anrufen. Ehre von Familie verlangt, du nach Tunesien müssen. Chef
dir geben Urlaub, du sofort Urlaub nehmen müssen. Du dich melden, wann zurück.
Unten du uns schreiben E-Mail-Adresse von Chef.«
»Was
soll das?«
»Wir
nichts möchten, du werden vermisst hier und Polizei dich suchen! Denke an
kleine Schwester, Habib!«
»Woher
wisst ihr, wo meine Schwester ist? Woher wisst ihr, wer ich bin? Wer seid ihr?«
»Schweig
und schreib! Wenn wir kommen nächstes Mal, wir wollen Zettel!«
Sein
imaginäres Organ pulsiert in der Brust, pumpt den aufgestauten Zorn durch die
Adern. Mit einem Satz springt er auf die Beine, packt die vermummte Gestalt mit
beiden Händen am Hals. Krallt sich in die Haut, wird fast ohnmächtig vor Wut.
Der Schlag, der ihn trifft, ist fürchterlich, lässt ihn rückwärts gegen die
Wand prallen. Er knallt mit dem Gesicht vornüber auf den Boden, spürt nichts
mehr. Kein Geräusch um ihn herum. Totenstille. Er liegt da, den Rücken auf der
Matratze. Sein Blick geht an die Decke. Niemand ist im Raum.
Ist das passiert oder nicht, fragt er sich. Er weiß es nicht. Das war nur
ein Tagtraum, denkt er. Nein, es ist passiert! Nur nicht im Moment, sondern vor
langer Zeit.
Durch
die Wand dringen die ärgerlichen Worte eines seiner Entführer. Er kann nicht
verstehen, was gesprochen wird, nur dass sie in arabischer Sprache miteinander
streiten. Seit mehreren Tagen sind alle Männer merkwürdig gereizt, das bildet
er sich nicht ein. Wenn einer ihm das Essen bringt, ist er meistens nervös und
aggressiv.
»Will
mein Vater das Lösegeld nicht bezahlen?«
Die
Frage war ihm nicht beantwortet worden. Immer wenn er Kontakt zu seinen
Peinigern hat, fühlt er intensiver, seine Situation ist bedrohlicher geworden.
Du
darfst dich nicht hängen lassen, sonst bist du bereits so gut wie tot!
*
»Siebenundfünfzig Pakistanis. Das hätte ich nicht gedacht«, murmelt
Swensen vor sich hin, nachdem er seine Internet-Post geöffnet hat. »Da leben
fast so viele Pakistanis in Husum wie Türken. Achtunddreißig Männer und
neunzehn Frauen.«
Hauptkommissar
Colditz blättert gerade einen Stapel Vernehmungsprotokolle durch und blickt
fragend hoch. Man hatte ihm einen Schreibtisch direkt vor den von Swensen
geschoben.
»Das
Einwohnermeldeamt hat mir eben die Liste gesendet, um die ich gebeten habe. Ich
schätze, uns bleibt nichts anderes übrig, als die Befragungen auf alle Muslime
auszudehnen. Es gibt hier bestimmt auch einige Iraner, Saudis, Ägypter usw.«
»Ich
hab mich in letzter Zeit öfter mal gefragt, ob wir mit unserer Suche bei den
Muslimen überhaupt richtig liegen«, grübelt Colditz laut und greift zu seiner
Flasche mit Apfelschorle. Das Thermometer vor dem Fenster zeigt bereits
neunundzwanzig Grad im Schatten.
»Höre
ich da leisen Zweifel an der Blutrachetheorie?«
»Ich
war nie ein Dogmatiker!«
»Wieso
haben Sie ihre Meinung
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