Feuermale
und blutverkrustet.
»He, Kleine, wo warst du denn?« fragte sie. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«
»Ich hab die Adresse auf einem Umschlag in Ihrem Büro gesehen«, sagte das Mädchen. Ihr Blick war immer noch starr nach vorn gerichtet. Die Stimme ein tonloses heiseres Krächzen.
»Sehr raffiniert.«
Kate rückte näher. »Wenn es uns jetzt nur noch gelingen würde, deine Talente zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Wo warst du, Angie? Wer hat dich verletzt?«
Kate war jetzt in der Tür. Das Mädchen hatte sich auf ihrem Stuhl nicht bewegt. Sie trug dieselben räudigen Jeans vom ersten Tag, jetzt mit dunklen Flecken, die wie Blut aussahen, auf den Schenkeln, dieselbe dreckige Jeansjacke, die in diesem Wetter sicher nicht warm genug war, und einen schäbigen blauen Pullover, den Kate schon gesehen hatte. Am Hals entdeckte Kate eine Reihe Würgemale, wo Finger so fest zugedrückt hatten, daß ihr die Luft abgeschnitten worden war – und die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn.
Der Anflug eines verbitterten Lächelns huschte über Angies Gesicht. »Ich hab’s schon schlimmer getroffen.«
»Ich weiß, daß du das hast, Süße«, sagte Kate leise. Aber erst, als sie in die Hocke gehen wollte, um sie besser ansehen zu können, sah Kate das Teppichmesser im Schoß des Mädchens – eine Rasierklingennase in einem glatten, dicken, grauen Metallgriff.
Sie richtete sich langsam auf und machte einen halben Schritt zurück. »Wer hat dir das angetan? Wo warst du, Angie?«
»Im Keller des Teufels«, sagte sie, was sie scheinbar verbittert amüsierte.
»Angie, ich werde einen Krankenwagen für dich rufen, okay?« sagte Kate und machte einen weiteren Schritt rückwärts zum Telefon.
Sofort füllten sich die Augen des Mädchens mit Tränen.
»Nein, ich brauch keinen Krankenwagen«, sagte sie. Die Aussicht schien sie geradezu in Panik zu versetzen.
»Jemand hat dich übel zugerichtet, Kleine.«
Kate fragte sich, wer dieser jemand sein könnte. War Angie geflohen und dann von selbst hierhergekommen, oder hatte man sie hergebracht? War ihr Entführer im nächsten Raum, beobachtete sie, wartete? Wenn sie das Telefon erreichen könnte, könnte sie 911 wählen, und die Polizei wäre in wenigen Minuten hier.
»Nein, bitte«, bettelte Angie. »Können Sie nicht einfach hierbleiben? Kann ich nicht einfach hier bei Ihnen sein?
Nur ein Weilchen?«
»Schätzchen, du brauchst einen Arzt.«
»Nein. Nein. Nein.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre Finger krallten sich um den Griff des Teppichmessers. Sie hielt die Klinge an die Handfläche ihrer linken Hand.
Blutstropfen erschienen, wo die Spitze der Klinge ins Fleisch biß.
Das Telefon klingelte, zertrümmerte die gespannte Stille.
Kate machte einen Satz.
»Gehen Sie nicht ran!« schrie Angie, hielt die Hand hoch und zog das Messer Zentimeter für Zentimeter herunter, öffnete die oberste Hautschicht, ließ es bluten.
»Ich werd mich richtig schneiden«, drohte sie. »Ich weiß, wie man das macht.«
Wenn es ihr Ernst war und sie die Klinge noch die fehlenden Zentimeter bis zu ihrem Handgelenk herunterzog, würde sie verbluten, bevor Kate den Anruf bei 911 beendet hätte.
Das Klingeln hörte auf. Der Anrufbeantworter im Arbeitszimmer bat jetzt höflich, doch eine Nachricht zu hinterlassen. Quinn? Fragte sie sich. Kovác, mit irgendwelchen Neuigkeiten? Rob, der anrief, um sie zu feuern?
Sie konnte sich vorstellen, daß er fähig wäre, nur eine Nachricht zu hinterlassen, wie Melanie Hesslers Boß es getan hatte.
»Warum solltest du dich schneiden wollen, Angie?«
fragte sie. »Du bist jetzt in Sicherheit. Ich werde dir helfen. Ich werde dir helfen, das durchzustehen. Ich werde dir helfen, einen neuen Anfang zu finden.«
»Sie haben mir vorher auch nicht geholfen.«
»Du hast mir auch nicht viel Gelegenheit dazu gegeben.«
»Manchmal mag ich es, mich zu schneiden«, gab Angie zu, den Kopf beschämt gesenkt. »Manchmal muß ich es.
Ich fühl mich dann… es macht mir Angst. Aber wenn ich mich schneide, dann geht es weg. Das ist doch irre, oder?«
Sie sah Kate mit so verzweifelten Augen an, daß es ihr fast das Herz brach.
Kate ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie hatte über Mädchen gelesen, die das taten, was Angie schilderte, und ja, ihr erster Gedanke war, daß es irre war. Wie konnten sich Leute verstümmeln und nicht wahnsinnig sein?
»Ich kann dir Hilfe besorgen, Angie«, sagte sie, »Es gibt Leute, die dir beibringen können, mit diesen Gefühlen
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