Feuermohn
behutsam entrollte.
Die Botschaft war in altdeutscher Schrift verfasst, wie Anna sie in der letzten Zeit so fleißig geübt hatte. Das Schriftbild war von anrührender Schönheit, ließ den Ehrgeiz in ihr wachsen, irgendwann ebenso akkurat zu schreiben.
Lächelnd begann sie zu lesen, freute sich, dass es ihr keinerlei Mühe bereitete, die Nachricht fließend zu entziffern.
„Du willst für mich kochen?“ Anna strahlte über das ganze Gesicht, legte die Rolle auf den Tisch zurück, wo sie sich sofort raschelnd zusammenrollte.
Er nickte. „Nicht heute, nicht morgen. Sondern dann, wenn unsere Archivierung hier beendet ist. Als krönender Abschluss sozusagen. Als Dankeschön für deine Hilfe.“
Erfreut sprang Anna auf, umarmte ihn, gab ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange.
„Wie ich dich kenne, wird das ein Festival der Kräuter.“
„Eine Sinfonie sozusagen.“ Joe fiel in ihr Lachen ein.
„Ich kann es gar nicht erwarten!“
Anna mochte den alten Mann von Tag zu Tag mehr. Die Gesprächsthemen gingen ihnen nicht aus, ihr war, als würde sie ihn schon ewig kennen.
Sie beobachtete ihn dabei, wie er getrocknete Kräuter in braune Fläschchen füllte und diese gut verschloss. Half ihm dabei, eine alte Apothekerwaage zu polieren, diverse Kräuter zu kleinen Sträußchen zu binden, und alles an seinen Platz zu räumen.
Büttenpapier, Papyrus, Federkiele und Tinte fanden ihren Weg auf den Tisch. Ordner, Mappen und Hefter folgten. Geschäftig rieb Joe seine Hände. „So, und nun zur eigentlichen Arbeit. Sonst wird das in diesem Leben nichts mehr mit dem Essen. Hier!“, er reichte Anna einige der Papiere, „machst du damit weiter?“
Sie nickte.
Ein Stapel Papyrusblätter lag auf dem Tisch. Während Joe eines der Blätter wählte, die Schublade aufzog und einen Polierstein herausnahm, mit dem er das gelbliche Papyrus glättete, vertiefte sich Anna in seine Aufzeichnungen, begann Buchstabe für Buchstabe in altdeutscher Schrift auf das edle Papier zu übertragen. Eine wohlige Stille begleitete die beiden in ihrer Tätigkeit. Eine Stille, in der nur das Ticken der alten Pendeluhr zu hören war.
Der intensive Duft der gebündelten Kräuter kroch wohlig in Annas Nase. Sie tauchte mit geröteten Wangen und voller Wissbegier ein in die Welt der Kräuter und alten Schriften.
„Gibt es unter der Vielzahl an Kräutern eine Pflanze, die du besonders magst?“
„Selbstverständlich!“ Joe blickte kurz auf. Der Polierstein war aus hellem Elfenbein mit verblassten Ornamenten, war alt, aber immer noch glatt. Sein Griff wirkte matt vom jahrelangen Gebrauch. Liebevoll legte Joe den Stein ab. Er schloss für einen Moment die Augen, griff zu einem Pinsel. „Auch wenn ich alle Kräuter liebe … Thymian ist meine favorisierte Herzenspflanze. Ich liebe dieses Kraut, den Geruch, das Aroma, jedes einzelne Blatt.“
„Eine gute Wahl. Thymian riecht und schmeckt wirklich fein!“
„Oh ja. Die französische Küche nennt dieses Kraut nicht umsonst das ‚Herz der raffinierten Küche‘. Aber in dieser Pflanze steckt noch soviel mehr. Ich habe noch nie ein Antibiotikum gebraucht. Was nicht bedeutet, dass ich nie krank war.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mein Tipp: Ein paar Thymianzweige mit kochendem Wasser aufgießen, ziehen lassen und trinken. Die beste Medizin!“
„So viel Kraft steckt in dieser Pflanze?“
„Oh ja. Thymian ist eine seit der Antike bekannte Heil- und Zauberpflanze. In alten Kräuterbüchern findet man eine Unmenge an Rezepten, die dabei helfen, Gebrechen unterschiedlichster Art auszumerzen. Als Mittel gegen Atemwegserkrankungen eingesetzt, wirkt Thymian übrigens wahre Wunder.“ Joe wusch seinen Pinsel aus, mischte neue Tinte an, griff zu einem neuen Blatt Papyrus. „Probier es einfach mal aus.“
„Das werde ich tun. Und dabei wohlwollend an dich denken.“
„Ich bitte darum!“ Joes Augen funkelten schelmisch. „Im alten Volksglauben spielte Thymian übrigens eine große Rolle bei der Abwehr des Bösen. Einen Strauß in Stall, Scheune oder Wohnhaus aufgehängt schützte vor Blitzschlag und sonstigem Unheil. Und da gibt es die Legende von der stolzen Bauerstochter. Kein Freier war ihr und ihren Eltern gut genug. Dabei wurde sie zahlreich umworben. Ein vornehmer Bursche aber ließ sich nicht abwimmeln. Er war fremd, irgendwie merkwürdig und war es gewohnt, was immer er wollte zu bekommen. Ihren Eltern jedenfalls kamen die Verführungskünste dieses Burschen, die im ganzen Dorf bekannt waren,
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