Feuernacht
der Mann zurück und teilte ihr mit, Jósteinn wolle den Auftrag auf jeden Fall weiterführen. Als er gehört hätte, dass der Fall womöglich nicht weiterverfolgt würde, weil sich Jakobs Mutter nicht sicher sei, hätte er zum ersten Mal seit dem Angriff mit jemandem gesprochen.
Anschließend hatte sich Dóra mit Grímheiður in Kontakt gesetzt und lange und ausführlich mit ihr geredet – nicht, weil sie den Redeschwall der alten Dame nicht bremsen konnte, sondern weil Grímheiður sämtliche eventuellen Konsequenzen ihrer Entscheidung mit Dóra durchsprechen wollte. Dóra verstand Grímheiðurs Bedürfnis und hatte schon längst aufgehört, ihre vielen Jas und Neins zu zählen, als sie endlich zu einem Entschluss kam: Eine Weiterführung des Falls sei für Jakob am besten, auch wenn es ihr gegen den Strich ginge, Jósteinns Hilfe anzunehmen. Am Ende hielt Dóra keine Minute des Telefonats für Zeitverschwendung und begrüßte die Entscheidung. Weiteres hatte sich nicht ergeben. Ari ging nicht ans Telefon, und Testanrufe bei den Mitarbeitern auf der Liste blieben ebenso erfolglos wie vorher.
Die Fahrt zum Regionalbüro verlief reibungslos, außer dass Dóra fast auf den Bürgersteig geschlittert wäre, als sie überstürzt das Radio ausschaltete. Die Nachrichten fingen gerade an, und da war es einfach über sie gekommen – sie konnte schlicht keine schlechten Meldungen mehr verkraften. Noch eine deprimierende Nachricht und sie hätte losgebrüllt und sich die Haare gerauft, aber sie wollte ja nicht wie eine Vogelscheuche bei Glódís aufkreuzen. Die ehemalige Heimleiterin hätte besser auch keine Nachrichten gehört, denn sie sah noch mitgenommener aus als bei ihrem letzten Treffen. Der schwarze Haaransatz ihrer gefärbten Haare war noch auffälliger, und die dazu passenden Schatten unter den Augen machten ihren Anblick nicht besser.
»Lass uns in mein Büro gehen.« Glódís drehte sich um und ging vor ihr aus dem Empfangsraum. Das Mädchen, das Dóra angekündigt hatte, hob die Augenbrauen und warf Dóra einen vielsagenden Blick zu.
»Ich habe viel zu tun, kommen wir also direkt zum Thema.« Glódís setzte sich mit leidvoller Miene an ihren Schreibtisch. »Du willst wahrscheinlich, dass ich dir die Fragen aus deinen E-Mails beantworte. Ich hatte bisher noch keine Zeit …«
»Nicht mehr nötig. Ich muss nur noch wissen, wo Ragna Sölvadóttir untergekommen ist, das Mädchen mit Locked-in-Syndrom, das auch im Heim gewohnt hat, aber am Tag des Brands nicht dort war.«
Glódís nahm einen Bleistift vom Tisch und schlug damit gegen ihre Handfläche. »Ich nehme an, dass du nicht viel über diese Krankheit weißt, sonst würdest du nicht glauben, dass du von ihr irgendwas erfahren könntest.«
»Mir ist vollkommen klar, in was für einem Zustand sie ist, und ich habe nicht vor, alleine mit ihr zu reden, sondern mit Hilfe eines Logopäden.«
»Ragna darf sich nicht aufregen, es ist völlig unnötig, sie damit zu belästigen. Wie gesagt, ich beantworte gerne alle deine Fragen. Ragna starrt meistens an die Decke und ist kaum in der Lage, etwas beizutragen, das nicht schon längst gesagt worden wäre. Man sollte sie mit so was nicht behelligen.«
Dóra fragte sich, warum Glódís gesagt hatte, sie würde alle ihre Fragen beantworten. »Ich will sie aber trotzdem treffen, wobei ich natürlich auch sehr dankbar bin, dass du deine kostbare Zeit für mich opferst. Aber ein persönlicher Eindruck ist immer besser, und deine bisherigen Antworten waren nun mal lückenhaft.«
»Was meinst du damit?« Glódís schlug den Bleistift jetzt langsamer, aber fester gegen ihre Handfläche. »Ich war dir gegenüber vollkommen offen, vielleicht sogar zu offen.«
Dóra lächelte höflich. »Du hast mir weder von Ragna erzählt noch davon, dass Tryggvi Einvarðsson eine spezielle Therapie gemacht hat, die erfolgreich war. Und du hast auch nicht erwähnt, dass der Nachtwächter Friðleifur und sein Kollege unter Verdacht standen, auf der Arbeit getrunken und Medikamente entwendet zu haben. Wahrscheinlich gibt es noch ein paar andere Dinge, die du nicht erwähnt hast.«
»Nichts, was mit dem Brand zu tun hätte.«
»Ich beurteile selbst, was für meine Arbeit wichtig ist.« Wenn sie nicht weiter dasitzen und sich streiten wollten, musste Dóra ihre Taktik ändern. »Aber ich bin, wie gesagt, dankbar, dass du mir einige Dinge erzählt hast. Mir ist vollkommen klar, dass du den Verstorbenen nahestandest, aber es ist einfach
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