Feuernacht
windstill. »Also, wo fangen wir an?«
Ihre Mutter stand immer noch in der Tür. »Das schaffen wir in der kurzen Zeit nie. Sollen wir nicht anfangen, wenn ich eingekauft und gekocht habe?«
»Nein, Mama, wir fangen jetzt an.« Lena öffnete den Kleiderschrank. Es gab unzählige Kleiderbügel, einen Anzug und einen Stapel alter Pullover und T-Shirts, die nach Tryggvis Umzug dageblieben waren. »Das könnte man doch zum Beispiel dem Roten Kreuz geben. Der Anzug ist wie neu, den kann bestimmt noch jemand brauchen.«
»Er ist ganz neu. Tryggvi hätte ihn an Weihnachten tragen sollen.« Die Stimme ihrer Mutter war völlig emotionslos. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn verschenken soll. Und die Pullis auch nicht. Deine verstorbene Großmutter hat einen davon gestrickt.«
Ruhig schloss Lena den Schrank wieder, obwohl sie am liebsten mit voller Wucht die Tür zugeknallt hätte. »Okay, und was ist mit den Büchern?« Am Ende des Zimmers standen hohe Regale mit bebilderten Sachbüchern über Tiere, Autos und Astrologie. »Die lesen wir bestimmt nicht.«
»Man soll keine Bücher wegschmeißen. Weißt du nicht mehr, dass er sich die stundenlang angeschaut hat? Ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie wegzugeben.«
»Ja, Mama, das weiß ich noch.« Die Sache war schwieriger, als sich Lena vorgestellt hatte. »Wir müssen sie ja nicht wegschmeißen oder verschenken, aber wir können sie in Kisten aufbewahren.«
»Das ist doch dasselbe.«
Lena wollte nicht so leicht aufgeben und machte einfach weiter. »Wir können doch wenigstens die Sachen aus den Schubladen in die Abstellkammer bringen. Die hat doch seit Jahren keiner mehr aufgemacht.« Lena zog die kleinste Schublade in dem klobigen Schreibtisch ihres Bruders so schwungvoll auf, dass sie fast auf den Boden geknallt wäre. Darin lag aller möglicher Krempel, Buntstifte und andere Schreibutensilien, das Kartenspiel, mit dem Tryggvi Kartenhäuser gebaut hatte, und Würfel, die er besonders gemocht hatte. Ganz hinten in der Schublade lag ein rotes Feuerzeug, das Lena gar nicht gesehen hätte, wenn sie die Schublade nicht so schwungvoll aufgezogen hätte. Schweigend schloss sie die Schublade wieder. »Das meiste davon kann jedenfalls weg.«
»Kommt drauf an.« Lenas Mutter wollte das Zimmer offenbar nicht betreten und lehnte immer noch im Türrahmen. »Auch wenn man die Dinge nicht ständig anschaut oder benutzt, muss man sie noch lange nicht in den Müll schmeißen.«
»Wer redet denn von Müll?« Lena öffnete mit Mühe die nächste Schublade, die größer und schwerer war als die erste. »Wobei wir das auch nicht von vornherein ausschließen sollten.« Die Schublade war voll mit Schutt und Steinen – ganz andere Steine als die, die Lena mal bei einer Reise mit ihren Eltern in einer Steinesammlung in Ostisland gesehen hatte. Jene Steine waren schön und ungewöhnlich gewesen, in verschiedenen Farbtönen, oft glänzend, aber die in der Schublade waren grau, unförmig und langweilig – Schutt. »Wo hatte er denn die Steine her?«
»Von draußen. Er durfte sie behalten.«
»Hat er sie gesammelt? Habe ich gar nicht mitgekriegt.« Lena hatte mit ihrem Bruder zahllose Spaziergänge durch das Viertel gemacht, aber er hatte sich nie für Steine interessiert. Und auch sonst für nichts.
»Das war so eine neue Masche. Er hat sie gesammelt, kurz bevor er umgezogen ist, da warst du gerade frisch an der Uni und hattest keine Zeit mehr, mit ihm rauszugehen.« Ihre Stimme war nicht anklagend – die Familie hatte volles Verständnis für Lenas veränderten Tagesablauf als Studentin.
Lena nahm einen Stein und legte ihn in ihre Handfläche. »Sollen wir die nicht wegtun? Das sind doch nur Steine.«
»Ja, von mir aus.«
Das war schon ein großer Fortschritt, und Lena war so froh, dass sie ihrer Mutter den Rücken zukehrte, um ihren Triumph zu verbergen. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung, dass das Familienleben mit der Zeit wieder normal werden würde, so normal, wie es nun mal werden konnte. Lena ließ den Stein wieder in die Schublade fallen, wo er auf einem Haufen landete, hinunterrollte und gegen die Rückwand der Schublade prallte. Nachdem sie die Schublade mit einigem Kraftaufwand wieder zugeschoben hatte, zog sie die nächste heraus, in der sie noch mehr Steine vermutete. Aber so war es nicht. In der Lade lag ein Stapel loser Blätter. Das oberste war leer, und Lena nahm ein paar heraus.
»Was macht ihr denn da?«, drang die verwunderte Stimme ihres
Weitere Kostenlose Bücher