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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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man besser ruhen ließ. Aber das war nicht der Punkt, der Glódís am meisten beunruhigte. Bei der ganzen Hektik hatte sie Einvarður nicht die reine Wahrheit gesagt. Sie hatte Tryggvis Therapeuten vergessen, Ægir. Als die Familie seine Hilfe nicht länger in Anspruch nehmen wollte, hatte Ægir seine Sachen zusammengepackt, darunter auch jede Menge Papiere, die er bei der Therapie eingesetzt hatte. Tryggvis Zeichnungen waren nicht alle bei dem Brand vernichtet worden.

25 . KAPITEL
    MONTAG ,
18 .  JANUAR 2010
    Ragna Sölvadóttirs Zustand war schlimmer, als sich Dóra vorgestellt hatte. Viel schlimmer. Sie lag auf dem Rücken, und eine Krankenschwester hatte ihren Kopf so platziert, dass sie ihr Gegenüber anschauen konnte. Die Logopädin saß dicht neben Dóra. Über Ragnas zierlichem Körper lag eine dicke Bettdecke. Ihre Schultern, die unter der Decke hervorragten, sahen aus wie Kleiderbügel, ihre Schlüsselbeine stachen heraus. Dóra war davon überzeugt, dass das Mädchen mit äußerster Vorsicht behandelt werden musste, damit sie nicht einfach auseinanderbrach. Das Schlimmste war jedoch nicht ihr magerer Körper, sondern ihre Starre. Die war so auffällig, dass Dóra das Gefühl hatte, sich selbst nicht bewegen zu dürfen, weil sie Ragna mit der geringsten Bewegung unter die Nase reiben würde, wie schlecht es ihr ging. Aber da die Logopädin die ganze Zeit auf ihrem Stuhl herumrutschte, war diese Rücksichtnahme wohl übertrieben. Es handelte sich um eine Mitarbeiterin des Regionalbüros, die sofort zur Stelle gewesen war. Dóra war ziemlich irritiert, wie schnell alles gegangen war, nachdem Glódís sie angerufen und ihr grünes Licht gegeben hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass es ein paar Tage dauern würde, bis die Sache in Gang kam, und hätte sich gerne besser vorbereitet. Dóra beschlich der Verdacht, dass genau das Glódís’ Absicht gewesen war: sie zu überrumpeln, damit das Gespräch möglichst vage blieb. Es sei denn, ihr war endlich klargeworden, dass es keinen Sinn hatte, sich querzustellen – Dóras Nachforschungen würden auch ohne ihre Hilfe vorankommen.
    Die Logopädin legte ihre Hände auf die Karten in ihrem Schoß. Sie hatte eine sanfte Stimme und sprach sehr deutlich: »Du hast also verstanden, wer das ist, und bist bereit, ihre Fragen zu beantworten?« Die Frau war vollkommen entspannt, und ihre kurze Erläuterung zu Dóras Besuch war sehr natürlich gewesen, so als handele es sich um eine ganz normale Verabredung. Ihre Stimme zeigte keine Spur von Mitleid oder Kindersprache, zu der Dóra sich verleitet fühlte. Sie musste aufpassen, die junge Frau nicht von oben herab anzusprechen – auch wenn ihr Körper kaum noch funktionierte, war ihr Geist vollkommen klar.
    Ragna blinzelte einmal:
Ja.
    »Das ist gut. Wir haben keine Eile, Ragna, du kannst dir Zeit lassen. Ich habe die Karten dabei, die kennst du ja gut, oder?«
    Das Mädchen blinzelte wieder einmal:
Ja.
Ihre Augen hatten eine ungewöhnliche Farbe, ganz dunkles Blau, das Dóra erst für braun gehalten hatte. Dóra hatte das Gefühl, einen tragischen Ausdruck darin zu erkennen, wusste aber nicht, wo das herrührte. Ragna hatte keine Tränen in den Augen und sah auch nicht besonders niedergeschlagen aus, sie starrte einfach nur mit weit geöffneten Augen vor sich hin. Die Logopädin hatte Dóra erzählt, dass die wenigen Menschen, die an dieser Krankheit litten, beim ersten Mal mit den Karten immer dasselbe buchstabierten:
Töte mich.
Nachdem Dóra ein paar Minuten an Ragnas Bett gesessen hatte, wunderte sie sich nicht mehr darüber. Die Logopädin hatte ihr auch erklärt, dass dieser Todeswunsch meist vorüberging, viele Menschen hätten ein unglaubliches Anpassungsvermögen und trösteten sich damit, dass andere noch schlechter dran waren. Auf Dóras Nachfrage erzählte sie, es gäbe eine noch schlimmere Form dieses Gehirnschadens, bei der auch die Verbindung zu den Augenmuskeln unterbrochen sei. Um einen solchen Zustand vom Wachkoma zu unterscheiden, müssten Gehirnmessungen durchgeführt werden, denn der einzige Unterschied bestünde im Bewusstsein. Dóras Mund wurde ganz trocken, und sie versuchte automatisch, sich vorzustellen, wie sich ein solches Dahinvegetieren anfühlte.
    »Am besten übernimmt Dóra jetzt, während ich mich um die Karten kümmere.« Die Logopädin lächelte dem Mädchen zu und schaute dann zu Dóra. »Bitte sehr.«
    Dóra war total überrumpelt. Sie hatte ihren eigenen Gedanken nachgehangen und war

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