Feuernacht
solcher Gespräche nichts an, ich bin einfach nur so eine Art Textmaschine, aber diesmal fällt mir das wirklich schwer.«
»Solche Fragen wie eben müssen hoffentlich nicht oft gestellt werden.«
»Nein, mir ist das jedenfalls noch nie passiert.« Die Frau lächelte, musste aber sofort mit den Zähnen klappern. »Ich habe gehört, dass so was Ähnliches schon mal vor vielen Jahren im Landeskrankenhaus passiert ist und neulich in einem Behindertenheim, aber das muss wohl vertuscht worden sein. Das Mädchen wurde schwanger, ist aber gestorben, bevor sich die Sache rumsprechen konnte, behauptet jedenfalls die Gerüchteküche.«
»Ich nehme an, dass dieser Fall mit dem zusammenhängt, was wir eben mit Ragna besprochen haben.« Dóra saß in der Klemme: Sie wollte zwar mit der Frau nicht über den Fall reden, würde aber vielleicht in naher Zukunft noch mal ihre Hilfe brauchen. Offenbar hatte sich Lísas Geschichte im Regionalbüro herumgesprochen.
»Alles, was ich bei solchen Gesprächen höre, ist streng vertraulich. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich erzähle nichts weiter«, sagte die Frau ernst.
So war es ja auch bei Dolmetschern bei Polizeiverhören oder Anwaltsgesprächen. Wenn Dóra mehr Zeit gehabt hätte, sich vorzubereiten, hätte sie das genau recherchiert, aber jetzt musste sie selbst entscheiden, ob sie der Frau glaubte, deren bibbernde Erscheinung überzeugend wirkte. »Ich versuche herauszufinden, wer sich an einer Bewohnerin des Heims vergangen hat, das letztens abgebrannt ist. Die Frau war schwanger, als sie starb, und ich vermute, dass das jemand vertuschen wollte.«
»Aber warum hat Ragna immer wieder Sauerstoff gesagt?«
»Ich habe keine Ahnung. Leider.« Als Ragna das Wort zum ersten Mal buchstabiert hatte, hatten sie geglaubt, sie würde keine Luft bekommen, aber das war nicht der Fall. Schwer zu sagen, was Sauerstoff mit diesem Verbrechen zu tun haben sollte, aber für das Mädchen schien das merkwürdigerweise eine untrennbare Einheit zu sein. »Kannst du was mit der Täterbeschreibung anfangen?« Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Mann der Beschreibung nach erkennen würde, war verschwindend gering:
dunkle Haare, blaugraue Augen, schlank, gerade Zähne.
Warum konnte dieser Dreckskerl keine Warze oder ein Tattoo auf der Stirn haben?
»Nein, aber ich kannte da ja niemanden. Ich habe das Heim nie betreten.« Die Frau zögerte. »Was ist mit der Polizei? Müssen wir die nicht informieren?«
»Doch, keine Frage, ich mache das, sobald ich in der Kanzlei bin. Dafür ist es hier echt zu kalt.« Die Polizei hatte den Fall zwar auf Bitte von Lísas Eltern ruhen lassen, aber jetzt hatte er eindeutig ein anderes Ausmaß angenommen – mit zwei Opfern, von denen eins noch am Leben war.
»Ja, stimmt.« Die Frau richtete sich auf, brannte aber offenbar darauf, noch etwas zu fragen. Wahrscheinlich fiel es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Sie schien die Geschichte, genauso wie Dóra, noch nicht ganz verdaut zu haben.
»Noch eine Frage«, sagte Dóra und setzte sich wieder auf ihre Hände, diesmal, um ihre Finger zu wärmen. »Kann es sein, dass du von den Karten etwas falsch abgelesen hast, dass Ragna eigentlich etwas anderes sagen wollte? Diese Zeichen liegen ja ziemlich nah beieinander, es ist bestimmt schwer, sie immer so genau zu deuten.«
»Nein, das sollte eigentlich nicht passieren. Du hast ja gesehen, dass ich alles noch mal wiederholt habe und Ragna immer zugestimmt hat. Die Karten sind natürlich komplizierter als gesprochene Sprache. Es gibt ja nicht für alle Dinge dieser Welt Zeichen, und wenn man die Wörter buchstabieren muss, wird der Sprechfluss langsamer. Aber ich habe genau das gesagt, was sie mir angezeigt hat. Ich habe das schon sehr oft gemacht, da kannst du dir ganz sicher sein.«
»Entschuldige, aber ich dachte, es gäbe vielleicht eine einfache Erklärung für diese seltsamen Antworten. Das mit dem Sauerstoff ist völlig unverständlich, und die Sache mit der Stimme aus dem Radio habe ich auch nicht kapiert.« Kurz vor Ende des Gesprächs hatte das Mädchen
Radio
buchstabiert. »Wahrscheinlich wollte sie noch was hinzufügen. Ich habe irgendwie gehofft, es wäre alles etwas deutlicher.«
»Nein, leider nicht.« Die Frau, die auf dem ungeschützten Platz vor dem Krankenhaus stand, war schon ganz blau im Gesicht. »Aber wenn mir noch was einfällt, melde ich mich sofort.« Bevor sie zu ihrem Auto ging, fügte sie noch hinzu: »Warte nicht zu lang
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