Feuernacht
geglaubt hatte, zumal seine Eltern und die Heimleiterin ihr einiges über ihn verschwiegen hatten. Warum wollten sie Tryggvis Fortschritte, auch wenn sie nur gering waren, geheim halten? Womöglich hatte die Therapie nicht nur Tryggvis Sozialverhalten beeinflusst, sondern auch seine Faszination für Feuer wiederaufleben lassen, über die seine Eltern ebenfalls geschwiegen hatten. Dóra hatte Kontakt zu einer Betreuerin des Sommercamps aufgenommen, von dem Jakobs Mutter ihr erzählt hatte, und die hatte ihr bereitwillig Auskunft über den Vorfall mit dem Schlafsack erteilt. Demnach hatte Tryggvi Streichhölzer und flüssigen Grillanzünder in die Hände bekommen. Damit war am Abend vorher ein kleines Lagerfeuer entfacht worden, das ihn sehr fasziniert hatte. Tryggvi hatte einen Schlafsack in einer der Kojen angezündet, wahrscheinlich um das schöne Gefühl des vergangenen Abends wieder wachzurufen. Zum Glück hatte er kein Geheimnis daraus gemacht, und der Brand wurde gelöscht, bevor er größeren Schaden anrichten konnte. Tryggvis Eltern sei das sehr unangenehm gewesen. Sie hätten den Betreuern erzählt, dass der Junge schon immer gerne mit Feuer gespielt habe und sie stets darauf achten würden, dass er nicht an Streichhölzer oder Feuerzeuge herankäme. Leider hätten sie vergessen, das bei der Anmeldung für das Sommercamp anzugeben, es sei schon so lange her, dass etwas passiert sei, und sie hätten ja auch nicht damit gerechnet, dass man ein Lagerfeuer machen würde. Tryggvis Vater hätte den Jungen dann sofort abgeholt, und damit sei das Thema beendet gewesen, zumal in dieser missglückten Woche noch genug andere Dinge geschehen seien.
»Wann war Tryggvi bei dir im Zimmer? Kurz vor deiner Verlegung ins Krankenhaus?«
Ein Blinzeln.
Ja.
»Hat er da was gesagt?« Tryggvi hatte zwar angeblich nie etwas gesagt, aber Dóra fragte lieber nach. Gut möglich, dass er größere Fortschritte gemacht hatte, als die Leute zugaben.
Zweimal Blinzeln.
Nein.
»Hat er sich zu dir ins Bett gelegt?« Dóra schaute Ragna direkt in die Augen, sah aber trotzdem aus dem Augenwinkel, wie die Logopädin ihr schnell den Kopf zuwandte.
Zweimal Blinzeln.
Nein.
»Hat sich jemand anders zu dir ins Bett gelegt?« Die Logopädin packte Dóra fest am Arm, aber sie schüttelte sie ab und konzentrierte sich auf Ragnas Reaktion. Lange geschah nichts, sie schauten sich nur in die Augen. Dann blinzelte das Mädchen.
Ein vielsagendes Blinzeln.
Ja.
Dóra saß auf dem vollbesetzten Parkplatz des Landeskrankenhauses im Wagen. Die Heizung kämpfte gegen den Reif auf den Scheiben an, und Dóra schob auf dem kalten Sitz ihre Hände unter die Oberschenkel. Aber es waren nicht die beschlagenen Scheiben oder die kalten Beine, die sie vom Fahren abhielten – in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, und es war einfach zu gefährlich, in diesem Zustand loszufahren. Dóra konnte ihre Gedanken nicht ordnen, zumal sie nicht auf alle ihre Fragen Antworten bekommen hatte. Ragna konnte nur eine begrenzte Zeitlang über die Augen kommunizieren. Das Gespräch war zwar noch eine Weile weitergegangen, aber dann mussten sie aufhören, weil Ragna einfach nicht mehr konnte. Dóra wusste nicht, ob sie zu erregt oder zu erschöpft war, denn es war nicht leicht, Ragnas Gefühle einzuschätzen. Ragna hatte einfach die Augen zugemacht und erst wieder geöffnet, als sie gefragt wurde, ob sie das Gespräch abbrechen wolle. Da hatte sie einmal geblinzelt:
Ja.
Dóra zuckte zusammen, als jemand energisch an ihr Autofenster klopfte. Neben dem Wagen stand die Logopädin, dünn angezogen und zitternd. Dóra brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen und die Hände unter ihren Beinen herauszuziehen. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte die Frau, als Dóra die Scheibe runtergekurbelt und die Arme um ihren Körper geschlungen hatte, um sich zu wärmen, »aber ich muss dich einfach noch was fragen.« Das überraschte Dóra nicht. Obwohl die Frau zunächst absolut dagegen gewesen war, über dieses sensible Thema zu sprechen, hatte sie schnell ihre Meinung geändert und war genauso erpicht darauf gewesen wie Dóra, mehr über die Geschehnisse zu erfahren. Nachdem sie Ragna in der Obhut einer Krankenschwester zurückgelassen hatten, hatte die Frau anscheinend gehofft, dass Dóra ihr ausführlich von der Sache erzählen würde, aber Dóra hatte sich nur für die Hilfe bedankt und war dann gegangen. »Weißt du, normalerweise gehen mich die Inhalte
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