Feuernacht
Kanzlei immer ziemlich chaotisch, so als hätten die Mitarbeiter noch nicht registriert, dass das Wochenende vorbei war und eine neue Arbeitswoche begonnen hatte. Sie kamen immer wieder aus ihren Büros getrottet, so als versuchten sie, sich daran zu erinnern, was eigentlich zu tun war. Oder sie hofften, dass eine weitere Tasse Kaffee ihr Gehirn in Gang bringen würde. Dóra war da keine Ausnahme und hätte lieber etwas ganz anderes getan, als zu arbeiten.
Als der Wecker am Morgen geklingelt hatte, lag sie alleine im Bett, was nicht besonders ungewöhnlich war – Matthias wurde oft vor ihr wach und ging joggen. Diesmal war er sogar schon wieder vom Joggen zurück, hatte geduscht, sich angezogen und stand mit flehendem Blick neben dem Bett und starrte sie an. »Bitte nimm mich mit zur Arbeit, zur Not würde ich sogar Bella assistieren.« Dóra rieb sich den Schlaf aus den Augen und murmelte etwas Unverständliches, das man weder als ja noch als nein interpretieren konnte. »Ich kann dieses Pfeifen von deinem Vater einfach nicht mehr ertragen. Ich weiß, man gewöhnt sich daran, aber im Moment macht es mich echt fertig.«
Natürlich nahm sie ihn mit in die Kanzlei. Dóras Eltern weckten die Kinder, machten ihnen das Frühstück und schickten sie in die Schule, so dass Dóra früher fertig war als sonst. Die veränderte Personenzahl im Haus hatte also auch gewisse Vorteile, und Dóra verabschiedete sich außerordentlich gut gelaunt mit einem Kuss von ihren Eltern, obwohl sie das Pfeifen hinter sich noch hören konnten, als sie das Haus verließen. Matthias hatte netterweise sogar das Auto freigeschaufelt. Dóra hasste es, den Wagen freizuschaufeln, vielleicht, weil sie danach immer voller Schnee war. Als die Garage noch mit Kisten vollgestopft gewesen war und es keine ehrgeizigen Umzugspläne gegeben hatte, hätte sie den Wagen noch drinnen parken können, aber dieser Traum lag jetzt in weiter Ferne – zumindest für die nächsten zwei Monate.
Dóras Rastlosigkeit war also nicht darauf zurückzuführen, dass der Morgen hektisch begonnen hätte. Sie kam einfach nicht damit klar, dass sich das Wochenende völlig überraschend in eine neue Arbeitswoche verwandelt hatte. Um richtig in die Gänge zu kommen, musste sie irgendwas tun, nur was? Sie konnte sich noch nicht auf die verschiedenen Fälle konzentrieren, an denen sie gerade arbeitete, daher checkte sie ihre E-Mails. Aber selbst das war ihr zu anstrengend, und am Ende schloss sie resigniert das Mailprogramm. Sie musste noch die unbezahlten Rechnungen abarbeiten, aber das konnte bis zum Nachmittag oder bis morgen warten. Sie brauchte einfach eine vergnüglichere Aufgabe, damit sie nach der Mittagspause wieder voll einsatzfähig war. Dóra wandte sich von ihrem Computer und dem Rechnungsstapel ab. Matthias lag mit seinem Laptop auf dem Schoß auf dem kleinen Sofa, las Nachrichten aus Deutschland und ließ die Beine über den Rand baumeln. Nach dem Wochenende war Dóra auf die Idee gekommen, sie könnten sich in ihrem Büro einschließen, wenn sie alleine sein wollten, aber so, wie Matthias auf dem kleinen Sofa lag, schien das nicht sehr praktikabel. Außerdem würde sich Bella von einer verschlossenen Tür bestimmt nicht abhalten lassen.
Dóra formte aus einem leeren Briefumschlag eine Kugel und warf sie auf Matthias. »Was hältst du davon, wenn wir ins Justizministerium fahren und abchecken, ob der Vater des autistischen Jungen bereit ist, mit uns zu reden? Danach können wir ja einen Kaffee trinken und was essen.«
Matthias nahm die Papierkugel und überlegte, ob er sie zurückwerfen sollte. »Kaffee klingt super. Diese Brühe, die ihr hier habt, ist wirklich ungenießbar.« Matthias schaute angewidert zu seiner Tasse auf dem Couchtisch. Sie hatte schon nach dem ersten Schluck aufgehört zu dampfen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass ihr den Kaffeesatz zweimal verwendet.« Er stand auf. »Das würde ich euch durchaus zutrauen.« Er warf den zu einer Kugel geformten Umschlag zurück, und er landete in Dóras Schoß. »Eins zu eins.«
Das Ministerium befand sich im Skuggasund, in der Schattengasse, und Dóra überlegte automatisch, wie der Name zustande gekommen war. Es war dort nicht schattiger als anderswo auf der Anhöhe Arnarhóll, außerdem musste die Straße ihren Namen bekommen haben, bevor dort Häuser gestanden hatten. Vielleicht war der Namensgeber so hellsichtig gewesen, dass er wusste, dass die Gebäude beiderseits der
Weitere Kostenlose Bücher