Feuernacht
ihren Ausführungen hielt. »Die Polizei, die Anklage und zwei gerichtliche Instanzen sind aber anderer Meinung.«
»Das ist mir bewusst«, sagte Dóra mit ruhiger Stimme. Sie hatte damit gerechnet, dass der Mann Zweifel an ihrer Arbeit hatte, und war sogar erstaunt darüber, dass er Matthias und sie überhaupt empfangen hatte. »Aber es ändert nichts daran, dass ich nach der Durchsicht des Falls diese Meinung vertrete. Deshalb bin ich hier.«
»Was glaubst du denn, wer der Täter ist, wenn Jakob es nicht war?« Die Stimme des Mannes war völlig emotionslos, wodurch seine Worte besonders hart klangen.
»Darüber habe ich mir noch keine Meinung gebildet, aber ich hoffe, das klärt sich bald. Das wäre bei einem Antrag auf Wiederaufnahme natürlich ein starkes Druckmittel.«
»Darf ich diesen Besuch so verstehen, dass ich unter Verdacht stehe?«, fragte Einvarður lächelnd.
»Wie gesagt, ich habe mir noch keine Meinung darüber gebildet, dafür habe ich noch nicht genug in der Hand.« Dóra lächelte zurück, und Einvarður erblasste leicht. Offenbar hatte er damit gerechnet, dass Dóra diese abwegige Idee weit von sich weisen würde. »Aber ich bin nicht hier, weil ich dich verdächtige. Ich hoffe, dass du mir einen besseren Einblick in das Leben im Heim geben und mir sagen kannst, ob dort etwas nicht so war, wie es sein sollte.«
Einvarður hatte seine überlegene Haltung zurückgewonnen. »Tja, das ist eine schwierige Frage, muss ich sagen. Wir haben ja nur unseren Sohn besucht, ich kannte das Heim als solches nicht sehr gut. Es war ja so angelegt, dass jeder Bewohner seinen eigenen Bereich hatte, wie eine eigene Wohnung.«
»Wenn du wir sagst, meinst du dann dich und deine Frau?« Dóra ging davon aus, dass der Mann verheiratet war, er trug einen goldenen, ziemlich breiten Ring, an dessen gewölbter, polierter Oberfläche kein Kratzer zu sehen war.
»Ja, und unsere Tochter.« Er nahm ein großes gerahmtes Foto aus dem Regal hinter sich und reichte es Dóra. »Das sind meine Frau Fanndís und unsere Tochter Lena. Und das ist Tryggvi.« Als er auf das Foto zeigte, hinterließ er über dem Gesicht seines Sohnes einen Fingerabdruck auf dem spiegelblanken Glas. »Ich habe mich immer noch nicht ganz davon erholt, muss ich sagen. So was wünsche ich wirklich niemandem.«
Dóra nahm das Bild entgegen und fragte sich, was er meinte: ein so krankes Kind zu haben oder es auf so schreckliche Weise zu verlieren? Das Familienfoto war drinnen aufgenommen worden, und der Hintergrund ließ auf Tryggvis Zimmer im Heim schließen. Vater und Sohn saßen auf einem kleinen Sofa, während sich Einvarðurs Frau an das Sofa neben ihren Sohn lehnte und die Tochter kerzengerade auf der anderen Seite stand. Sie waren alle auffallend gutaussehend. Einvarður wirkte entspannt und locker, obwohl er einen noch schickeren Anzug trug als jetzt. Er legte einen Arm um seine Frau und seinen Sohn. Fanndís lächelte charmant in die Kamera und war in einem lachsfarbenen knielangen Kleid ebenso elegant wie ihr Mann. Die Tochter trug ein langes weißes Kleid und ein goldenes Stirnband, wodurch sie ein bisschen so aussah wie eine römische Göttin. Die Kinder ähnelten ihren Eltern, die Tochter ihrer blonden, attraktiven Mutter, und der Sohn seinem dunkelhaarigen Vater. Sie hätten Fotomodelle sein können, alle, außer dem Sohn, der zwar attraktiv, aber unkonzentriert wirkte. Die drei anderen blickten geradeaus in die Kamera und lächelten, während Tryggvi ein bisschen zur Seite schaute und irgendetwas außerhalb des Rahmens anstarrte, das ihn offenbar mehr interessierte als der Fotograf. Seine Finger waren in einer merkwürdigen, unnatürlichen Gebetshaltung ineinander verschränkt. Außerdem waren seine Hände etwas unschärfer als der Rest des Fotos, so als würden sie sich schnell bewegen. Tryggvi war der Einzige, der Alltagskleidung trug. »Entschuldige bitte, ich hätte dir natürlich erst mal mein Beileid aussprechen sollen. Ich will nicht sagen, dass ich verstehe, wie du dich fühlst, das kann ich einfach nicht nachempfinden, aber es muss schrecklich sein.« Sie reichte das Foto weiter an Matthias. »Dein Sohn war außerordentlich hübsch.«
»Ja, das war er.« Einvarður nahm das Bild von Matthias wieder entgegen, nachdem der es ausgiebig studiert hatte. »Aber das war die einzige Gabe, die ihm vorbehaltlos zuteil wurde. Geistig lebte er in seiner ganz eigenen Welt.« Er stellte das Bild wieder an seinen Platz im Regal und rückte es
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