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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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gerade darum, weil sie vollkommen anders war als Lenas perfekte Mutter. Im Grunde konnte sie es ihm nicht verdenken, dass er sich in die Arme einer Frau treiben ließ, die weniger abweisend war.
    »Natürlich nicht, red nicht solchen Unsinn.« Ihre Mutter ließ von ihrem feuerroten Ohr ab und legte die Hände auf die Granitplatte zwischen ihnen. Lena konnte das gut nachempfinden, denn die Oberfläche fühlte sich kühl an. Sie machte das selbst oft zur Beruhigung und legte manchmal sogar die Wange auf die Platte. »Es ist wegen Tryggvi. Irgendwas, das dein Vater für wichtig hält, aber ich weiß nicht genau, worum es geht.«
    »Was ist mit Tryggvi?« Lena bekam einen trockenen Mund. Sollten die alten Wunden etwa wieder aufgerissen werden? »Ich dachte, das wäre vorbei. Du hast es versprochen.«
    Ihre Mutter presste die Hände so fest auf die Basaltplatte, dass sie ganz weiß wurden und noch knochiger wirkten als sonst. »Es geht nicht direkt um Tryggvi, sondern um diesen Jakob.«
    »Jakob?« Lena legte den Apfel weg. Er war nicht mehr appetitlich, nur unhandlich und lästig. »Soll das ein Witz sein? Der Jakob, der den Brand gelegt hat?« Was war nur mit ihrem Vater los? Er hatte zwar so seine Marotten, aber das war echt total verrückt. Er wusste ganz genau, was ihre Mutter seit Tryggvis Tod durchgemacht hatte – wollte er etwa riskieren, dass die Tragödie wieder von vorne losging?
    »Dein Vater hat gesagt, dass diese Anwältin untersucht, ob Jakob wirklich der Täter war. Anscheinend behauptet sie, es könnten Zweifel daran bestehen.«
    »Könnten? Sie ist sich noch nicht mal sicher?«
    Ihre Mutter schloss die Augen, und Lena vermutete, dass sie im Geiste bis zehn zählte. Dann öffnete sie die Augen wieder und starrte an ihrer Tochter vorbei. »Ich weiß es nicht, Lena. Vielleicht gibt es wirklich Zweifel an seiner Schuld.«
    »Wer soll denn sonst den Brand gelegt haben, wenn nicht dieser dämliche Jakob?« Lenas Stimme war schriller als sonst. Wenn es zu einer neuen Gerichtsverhandlung kam, bei der Tryggvis Tod noch mal ausgebreitet wurde, würde ihre Mutter vollkommen durchdrehen und ihr Vater sich wieder hinter der schützenden Mauer des Schweigens verstecken. Dann würde die Frage nach einer Scheidung bestimmt nicht mehr wie irgendeine Dummheit abgetan. Die Ehe ihrer Eltern hatte am seidenen Faden gehangen, und sie waren erst in letzter Zeit wieder sie selbst. Der Unterschied war nur, dass sich das Familienleben jetzt nicht mehr um Tryggvi drehte. Lena bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihren Bruder sehr gern gehabt, vielleicht nicht so sehr, wie ihre Mutter ihn geliebt hatte, aber mindestens so wie ihr Vater. Das Problem war, dass Tryggvi diese Zuneigung nicht erwidern konnte, was Vater und Sohn voneinander entfernt, aber keinen Einfluss auf ihre Mutter gehabt hatte. Vielleicht wurde sie die ganze Zeit von dem festen Glauben angetrieben, dass es möglich war, Tryggvi aus seiner Schale zu locken. Der Gedanke, dass dies vielleicht irgendwann wirklich gelungen wäre, deprimierte Lena. »Wer sollte denn sonst so was tun?«
    »Das weiß ich auch nicht,« antwortete ihre Mutter gereizt. »Die Frau kommt gleich, dann wird sich das schon klären. Ist bestimmt nur irgendein Unsinn, den dein Vater für glaubwürdig hält.«
    »Warum will diese Anwältin mit euch reden? Kann man euch denn nicht endlich mal in Ruhe lassen?«
    »Sollte man meinen. Ich weiß nicht, warum sie uns treffen will, vielleicht spricht sie mit allen Eltern.«
    »Vielleicht glaubt sie, dass es Tryggvi war.« Lena bedauerte ihre Worte sofort, aber es war schon zu spät. »Vielleicht weiß sie, dass ihn Feuer fasziniert hat.«
    Ihre Mutter klappte den Mund zweimal auf und zu und sagte dann: »Iss deinen Apfel auf. Es ist zu schade, ihn nach einem Bissen wegzuwerfen.«
    Lena überlegte, ob sie ihre Frage wiederholen oder ihre Mutter damit durchkommen lassen sollte. »Ich hab keinen Hunger mehr.« Trotzdem nahm sie den Apfel und saugte den Saft heraus. »Wann kommt die Frau?«
    Ihre Mutter schaute auf die Uhr, die lose an ihrem Handgelenk hing. Sie war immer schlank gewesen, aber nach Tryggvis Tod hatte sie monatelang keinen Appetit gehabt und noch nicht wieder zugenommen. »In einer halben Stunde. Du solltest dich mal anziehen.«
    »Ich?« Lena sah an ihrem gestreiften Pyjama herunter. »Ich treffe doch keine Anwältin.« Sie bedauerte ihre Worte sofort, denn sie war natürlich furchtbar neugierig, was die Frau zu erzählen hatte. Es war

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