Feuernacht
unwahrscheinlich, dass ihre Mutter sie über das Gespräch aufklären würde, und wenn wieder alles drohte, den Bach runterzugehen, wollte sie das frühzeitig wissen. Je früher, desto besser.
»Sei doch nicht so kindisch. Natürlich triffst du sie nicht, aber die Frau muss ja nicht mitten am Tag einem Teenager im Schlafanzug in die Arme laufen.«
»Ich werde einundzwanzig, Mama! Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in der Pubertät, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«
»Das ist mir allerdings aufgefallen, das ist wirklich nicht zu übersehen.« Ihre Mutter wurde mit jedem Satz gereizter. Lena wusste, dass das nichts mit ihr zu tun hatte. Sie war einfach nur der Prellbock, an dem sich ihre Mutter abreagierte. Als sie weitersprach, war sie wieder ruhiger, sogar ihr rotes Ohr sah fast wieder normal aus. »Im Ernst, Lena, zieh dir was an.«
»Oh Mann.« Lena stand auf und nahm den Apfel mit. Sie wollte sowieso duschen und sich anziehen und hatte sich nur wegen der Engstirnigkeit ihrer Mutter gesträubt. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass nach außen hin immer alles gut aussehen musste, egal, welcher Frust sich dahinter verbarg. Mit sieben war Lena am Abend vor Weihnachten eine Dose mit Bonbons auf die Füße gefallen und hatte den Nagel ihres dicken Zehs zerquetscht. Trotzdem musste sie an Heiligabend ihre Lackschuhe anziehen, obwohl jeder Schritt ihr vor Schmerzen Tränen in die Augen trieb. Tryggvi war immer gut angezogen und frisiert gewesen, obwohl ihm das völlig egal war. Lena hatte mal vorgeschlagen, mit ihrer Mutter ins Einkaufszentrum zu fahren und einen Jogginganzug für ihn zu kaufen, was viel bequemer war als die steifen Jeans. Aber da war sie bei ihrer Mutter an der falschen Adresse – Jogginganzüge seien für den Sport und keine Alltagskleidung. Vielleicht war ihre Mutter vor Tryggvis Geburt ja anders gewesen, aber da Lena jünger war als er, wusste sie das nicht.
Die Dusche, die sie viel kälter einstellte als sonst, machte Lena richtig wach. Die Müdigkeit wurde weggespült, und als sie aus der Dusche kam, hatte sie einen klaren Kopf und eine Gänsehaut – überall, außer am Unterschenkel, wo die Haut transplantiert worden war. Da war sie zehn gewesen. Lena wusste nicht, ob das daran lag, dass die neue Haut nicht auf Kälte reagierte, oder ob sie einfach keine Gänsehaut bilden konnte. Vielleicht eine Mischung von beidem. Hastig trocknete Lena den Unterschenkel ab. Sie wollte nicht daran erinnert werden, wollte nicht an die Verbrennung denken, nicht darüber nachdenken, dass sie zum Tanzen nie ein kurzes Kleid anziehen konnte wie ihre Freundinnen. Und am allerwenigsten wollte sie daran denken, wie fasziniert Tryggvi von Feuer gewesen war, von dem Feuer, das ihr so übel mitgespielt hatte. Ihre Eltern hatten ihr strikt verboten, diese Faszination auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Das Verbot war nach dem Brand im Heim ausgesprochen worden und galt noch immer.
Im Erdgeschoss klingelte es an der Tür. Eilig wickelte sich Lena in ein großes Handtuch, das bis zu den Knöcheln reichte. Die Anwältin konnte sie natürlich im ersten Stock nicht sehen, aber sicher war sicher. Diese Frau durfte nichts davon erfahren. Das würden ihre Eltern und sie nicht aushalten. Und das Andenken an Tryggvi schon gar nicht. Absolut nicht.
13 . KAPITEL
MONTAG ,
11 . JANUAR 2010
Margeir versuchte, nicht zu verzweifelt zu wirken, konnte seinen Übereifer aber nicht im Zaum halten, und auf seiner Stirn bildeten sich winzige Schweißperlen. »Aber gibt es denn nicht bald irgendwelche Änderungen? Einen neuen Programmplan fürs Frühjahr, bei dem man die Sendung verschieben könnte?«
Das Gesicht des Radiochefs zeigte nicht eine Spur von Anteilnahme. Hinter ihm hing ein Plakat mit der Aufschrift:
Es ist nie zu spät, der zu werden, der du hättest sein können.
Unter dem Text war ein Bild von einem zahnlosen, grinsenden Greis mit einem dicken Lehrbuch unter dem Arm. Obwohl es noch viele Jahrzehnte dauern würde, bis sich Margeir dem Motiv altersmäßig annäherte, hatte er Mitleid mit dem Alten. Aber wahrscheinlich war es einfacher, sich für irgendein Studium einzuschreiben, als mit einem Chef wie seinem zu kämpfen zu haben. Bei dem kleinen Privatsender gab es nur eine Autorität, und die saß vor ihm und schien nicht gewillt zu sein, ihm einen Gefallen zu tun. Wenn Margeirs Anliegen beim Radiochef keine Gnade fand, gab es keine höhere Instanz mehr, an die er sich wenden konnte. »Als
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