Feuernacht
etwas Besseres verdient – sie selbst war nicht so wichtig. Doch anstatt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, beugte sie sich herunter und lächelte ihren Sohn an. »Komm, wir gehen nach Hause. Wir fahren bei der Bäckerei vorbei und kaufen Schmalzgebäck.« Er schüttelte den Kopf und sagte, er wolle gleich nach Hause, in sein Zimmer. Berglind wusste genau, warum. Das Haus war der einzige Ort, an dem er Ruhe vor diesem zudringlichen, unheimlichen Geist hatte. Solange er nicht zum Fenster ging.
Eins, zwei, drei.
Pési zuliebe musste sie reingehen und sich anziehen. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als das Kind bei sich zu haben. Der Gestank schien nachzulassen, er lag noch in der Luft, war aber nicht mehr so intensiv wie vorher. Vielleicht war das ein Zeichen dafür, dass sie außer Gefahr war. Berglind nahm all ihren Mut zusammen und drehte sich abrupt um.
Bei der schnellen Drehung löste sich der Gürtel ihres Morgenmantels, und sie stand dem leeren Garten schutzlos gegenüber. Bis auf den schwarzen Rabenkadaver war nichts zu sehen; niemand ging durch den knirschenden Schnee, niemand holte tief Luft, um noch einmal in ihren Kragen zu hauchen. Sie schlang den Morgenmantel wieder um sich und machte den ersten Schritt auf die halbgeöffnete Terrassentür zu. Als nichts geschah, wurde sie etwas mutiger. In Sekundenschnelle war sie beim Haus angelangt, an dem toten Vogel vorbei, und packte mit feuchter Hand den Türgriff. Zum ersten Mal, seit sie eingezogen waren, klemmte die Tür, und bei Berglinds ungelenken, vergeblichen Versuchen, sie zu öffnen, schwanden ihre Kräfte. Sie wagte es nicht, durch die Nase zu atmen, aus Angst, der Verwesungsgeruch könnte wieder zugenommen haben. In ihrer Panik spürte sie den Wind nicht, spürte nicht, ob er warm wie ein Atemhauch oder eiskalt war. Plötzlich gab der Türgriff nach, und die Tür ging so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Als sie völlig außer Atem und mit donnerndem Herzschlag ins Warme stürzte, ertönte das Knirschen im Schnee wieder hinter ihr. Sie schob die Tür mit voller Wucht in einem Ruck zu, so dass es laut knallte. Dann stand sie keuchend da, schnappte nach Luft und versuchte, den Blick nicht vom Fußboden zur Fensterscheibe zu heben, weil sie nicht in den Garten schauen wollte.
Als Berglinds Herzschlag wieder einigermaßen normal war, griff sie nach der bodenlangen Gardine und zog sie zu. Was war das nur? Hätte sie etwas tun oder sagen sollen? Sie wusste kaum etwas über das Mädchen und noch weniger über ihren Tod. Berglinds ursprüngliche Theorie, dass der rastlose Geist des Mädchens auf Pési aufpassen wollte, das zu Ende bringen wollte, ging nicht auf, denn sie war alleine zu Hause und Pési im Kindergarten. Aber was war dann der Sinn des Ganzen? Gab es überhaupt einen Sinn?
Plötzlich wurde es kühl, und Berglind bekam wieder eine Gänsehaut. Die Kälte kam von der Schiebetür, strömte an der Gardine nach oben und wirbelte durch den Raum wie unsichtbarer Rauch. Berglind wurde von rasender Wut gepackt und riss die Gardine auf. Sie konnte hören, wie der teure Stoff an der Gardinenstange einriss. Normalerweise hätte sie wegen der kaputten Gardine, die nur noch zerknittert an einer Stelle festhing, losgeheult. Sie konnten sich bestimmt keine neue leisten und mussten für den Rest des Winters in den halbdunklen Garten schauen. Doch in diesem Augenblick lag Berglind dieser Gedanke fern, und sie starrte mit offenem Mund auf die beschlagene Fensterscheibe. Die Scheibe war von außen komplett vereist. Durch den Raureif meinte sie, einen Schatten zu sehen, der sich schnell in Luft auflöste. Auf der vereisten Scheibe stand: 081 NN oder OBINN . Beides sagte ihr nichts. Berglind wich von der Gartentür zurück, ohne nachzusehen, ob derjenige, der das geschrieben hatte, Spuren hinterlassen hatte. Ihre Angst, dass es so sein könnte, war stärker als ihre Vernunft.
16 . KAPITEL
MONTAG ,
11 . JANUAR 2010
Der Schnee auf der Fensterbank war nach dem plötzlichen Wärmeeinbruch am Nachmittag geschmolzen, aber nach Sonnenuntergang wieder zu Eis geworden. Obwohl es von der Kanzlei nach Hause nicht weit war, wollte Dóra ungern bei Glatteis fahren und bedauerte es, Matthias nach ihrem Besuch bei Fanndís nach Hause gebracht zu haben. Sie hatte einen Termin mit einem Klienten, und Matthias hätte Bella währenddessen am Empfang Gesellschaft leisten und Zeuge ihrer glänzenden Sekretärinnenleistung werden müssen. Da es
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