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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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zu Hause nicht an Arbeit mangelte – es mussten noch Sachen aus der Garage geräumt werden –, hatte Matthias angeboten, sich darum zu kümmern, obwohl er wusste, dass er dabei das permanente Pfeifen von Dóras Vater und die endlosen Fragen ihrer Mutter nach seinem Lebertrankonsum ertragen musste. Matthias hatte sich in vielerlei Hinsicht an die isländische Gesellschaft angepasst, aber Lebertran ging gar nicht. Dóra ließ ihn damit in Ruhe, denn er musste schon genug von ihren Freunden erdulden. Wenn Matthias und Dóra zum Essen oder zu einer Party eingeladen waren, hatten immer alle dieselbe geniale Idee: ihm fermentierten Hai und
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aufzudrängen. Nachdem er durch den gesamten Freundeskreis gereicht worden war und bei diesem Brauch jedes Mal den erstaunten und schockierten Ausländer gemimt hatte, ließen die Einladungen langsam nach, denn niemand wusste so genau, was man mit dem fremden Gast jetzt noch anfangen sollte.
    Bevor Matthias aus dem Wagen gestiegen war, hatte er Dóra erzählt, was er von Lena, der Tochter des Hauses, in der Einfahrt erfahren hatte. Lena hatte behauptet, sie wolle, dass die Wahrheit über den Tod ihres Bruders ans Licht käme, befürchte aber, dass ihre Mutter das Bild des Behindertenheims, seiner Mitarbeiter und Bewohner beschönigen und Dóras Nachforschungen dadurch behindern würde. Ihre Mutter sei davon besessen, alles perfekt zu machen, und sehe die Dinge oft in rosarotem Licht.
    Natürlich ließ sich unmöglich beurteilen, wer von beiden die Wahrheit sagte, vielleicht erlebten sie die Welt einfach so unterschiedlich. Lena hatte jedenfalls versichert, dass die Atmosphäre im Heim unerträglich und die Mitarbeiter nicht allzu freundlich gewesen seien und die Bewohner sich äußerst unwohl gefühlt hätten. Das entsprach Jakobs Beschreibungen, aber Lena erzählte nichts Genaueres, nur, dass die Bewohner dort nicht wohnen wollten und die meisten unzufrieden waren. Sie sagte, sie kenne Jakob aus dem Heim, aber als Matthias fragte, ob sie ihn für schuldig halte, zuckte sie nur mit den Schultern. »Ich weiß nicht, er wirkte ganz okay. Er hat nie gezündelt oder davon geredet. Jedenfalls nicht mit mir.« Dann versuchte sie, Matthias darüber auszuquetschen, ob etwas auf Jakobs Unschuld hindeute, und interessierte sich besonders dafür, ob einer der Bewohner oder Mitarbeiter unter Verdacht stünde. Sie erzählte, die Mitarbeiter seien ungewöhnlich streng gewesen, bis auf ein paar jüngere, nette Leute. Matthias wich den geschickten Fragen des Mädchens aus und versuchte, nicht zu viel preiszugeben.
    Darüber hinaus erwähnte sie noch die Uneinigkeit ihrer Eltern wegen Tryggvi. Sie hatten sich darüber gestritten, wie er versorgt werden sollte, und hatten unterschiedliche Vorstellungen über seine Therapie. Lenas Vater hatte schon längst jegliche Hoffnung aufgegeben, während ihre Mutter ständig mit Tryggvi zur Therapie fuhr und sich über die neuesten Wunderheilungen informierte. Ungefähr ein Jahr bevor Tryggvi ins Heim zog, sei seine Mutter auf irgendeinen Schwachkopf gestoßen, den alle durchschauten, außer ihr. Er behauptete, Autismus heilen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Lenas Vater sprach ein Machtwort und rastete bei einem Streit mit seiner Frau nach einem Besuch dieses Mannes völlig aus. Lena beschrieb diesen Besuch nicht genau, erwähnte nur, er sei völlig missglückt gewesen, aber ihre Mutter sei anschließend von dem Wunschdenken besessen gewesen, dass ihr Sohn hinter dem Schleier des Autismus völlig gesund sei. Am Ende des Streits verlangte ihr Vater, dass eine Einrichtung für den Jungen gesucht würde, wo sich Spezialisten um ihn kümmerten. Ein halbes Jahr später zog Tryggvi in die neue Wohngruppe. Lena war es sehr wichtig, dass Matthias sie nicht falsch verstand, ihr Vater sei ein guter Mensch, Tryggvis Wohlbefinden hätte bei seiner Entscheidung immer im Vordergrund gestanden. Nachdem ihr Bruder zu Hause ausgezogen war, besserte sich das Verhältnis zwischen den Eltern zunehmend, und Lena war sehr erleichtert. »Tryggvi war ein lieber Kerl, aber er war irgendwie nicht lebendig, verstehst du? Er hat nie Gefühle gezeigt, wie ein Roboter. Ein schlecht programmierter Roboter.«
    Mehr erzählte das Mädchen nicht, aber bevor sie wieder ins Haus ging, fragte Matthias, ob Dóra sie anrufen könne, um ihr weitere Fragen zu stellen. »Sie soll mich nicht anrufen, aber sie kann mir eine SMS schicken, dann melde ich mich. Ich will nicht,

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