Feuernacht
dass meine Mutter erfährt, dass ich mit euch geredet habe. Sie ist manchmal so komisch. Ich stehe im Telefonbuch.« Dóra war sich nicht sicher, ob sie das tun würde; sie musste noch mit so vielen Leuten reden und wusste aus eigener Erfahrung, dass Jugendliche zu Übertreibungen neigten. Obwohl Lena natürlich auch die Einzige sein konnte, die ganz offen mit ihr redete. Aber das musste sie ja nicht sofort entscheiden.
Nach dem Termin mit ihrem Klienten setzte sie sich mit den Angehörigen der anderen Heimbewohner in Verbindung. Dóra hatte Angst vor diesen Telefonaten und schob sie vor sich her, aber nach dem Besuch bei Tryggvis Mutter gab es kein Zurück mehr. Hoffentlich war ihr die Frau nicht zuvorgekommen und hatte die anderen Eltern gewarnt. Dóra war es lieber, dass die Angehörigen nicht auf ihren Anruf vorbereitet waren – dann reagierte man anders und hielt sich eher an die Wahrheit. Nachdem Dóra mit allen gesprochen hatte, war sie sich sicher, dass niemand etwas gewusst oder mit ihrem Anruf gerechnet hatte. Es dauerte einige Zeit, die Leute davon zu überzeugen, dass sie nicht die Absicht hatte, einen Schuldigen freizubekommen, sondern einen Unschuldigen.
Da die meisten Eltern nicht von der Polizei verhört oder als Zeugen vor Gericht geladen worden waren, musste Dóra ihre Namen mit Hilfe von Nachrufen recherchieren. Nur über Natan Úlfheiðarson gab es keine Nachrufe, aber Dóra fand seine Mutter schließlich, indem sie den Namen des Jungen googelte. Dabei stieß sie auf eine Blogseite, auf die Natans Tante Fotos von einem Familientreffen gestellt hatte. Unter einem von ihnen standen die Namen von Mutter, Sohn und Onkel. Dóra musterte den jungen Mann auf dem Foto, der inzwischen tot war, und seine Mutter. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass das vielleicht der Mann war, der Lisa vergewaltigt hatte. Die beiden saßen an einem fein gedeckten Tisch mit weißen Kaffeetassen und dazugehörigen Tellern. Den Tortenstücken nach zu urteilen hatte die Familienfeier in einem Gemeindesaal auf dem Land stattgefunden. Natans Mutter Úlfheiður wirkte etwas älter als Dóra, und wenn die Momentaufnahme ihre Persönlichkeit richtig eingefangen hatte, war sie eine ernste Frau. Ihr Bruder wirkte auch nicht viel lebhafter, beide schienen nicht sehr beliebt zu sein, denn die Plätze neben ihnen waren frei. Vielleicht war die ganze Familie so, was die fehlenden Nachrufe auf den Jungen erklären würde.
Natan war schwieriger einzuschätzen als seine Mutter und sein Onkel. Durch den Helm auf seinem Kopf sah er seltsam aus, sein breites, schiefes Lächeln bildete einen krassen Gegensatz zu den Gesichtern seiner Tischnachbarn, und eines seiner Augen war geschlossen. Der Helm sollte ihn vermutlich bei einem epileptischen Anfall schützen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen hatte er zusätzlich eine geistige Behinderung, wobei der Fotograf natürlich auch in einem unglücklichen Moment auf den Auslöser gedrückt haben konnte. Jedenfalls wirkte Natans Fröhlichkeit im Vergleich mit der Trübsal, die die beiden anderen ausstrahlten, unangemessen, aber vielleicht war es ja auch genau umgekehrt: Der Frust der angeblich Gesunden stand im Widerspruch zur natürlichen Fröhlichkeit des Jungen.
Am Ende hatte Dóra eine Liste mit Telefonnummern und Adressen der vier Eltern der Bewohner zusammengestellt, die neben Tryggvi gestorben waren. In einem Fall schienen sich die Eltern getrennt zu haben: Sigríður Herdís Logadóttirs Elternteile hatten unterschiedliche Adressen.
Nachdem Dóra die Liste durchtelefoniert hatte, fühlte sie sich vor allem erschöpft. Erschöpft und traurig. Die Eltern hatten sich nicht über ihr Schicksal oder das ihres Kindes beklagt und wirkten unglaublich gefasst. In ihren Berichten vom Kampf mit den Behörden, eine passende, menschenwürdige Einrichtung für ihr Kind zu finden, schwang kein Selbstmitleid mit, und Dóra überlegte, ob solche Hindernisse und Rückschläge einen stärkten und dazu führten, dass man die Dinge gelassener anging. Natans Mutter Úlfheiður war die Einzige, die eher abweisend klang. Das Foto schien ihren Charakter ziemlich gut getroffen zu haben. Sie interessierte sich nicht dafür, ob der falsche Mann für den Tod ihres Sohnes zur Rechenschaft gezogen worden war und der wirkliche Täter womöglich noch frei herumlief. Die völlig emotionslose Beschreibung der Krankheit ihres Sohnes klang so, als würde sie einen Text ablesen. Dennoch schien sie endlos über ihren
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