Feuernacht
Sohn reden zu können. Natan hatte bei seiner Geburt ganz normal gewirkt, aber schon auf der Säuglingsstation begannen die Anfälle, und der Junge musste noch im Krankenhaus bleiben, als seine Mutter entlassen wurde. Die Neuronen in seinem Gehirn funktionierten nicht richtig, und er gehörte zu den Unglücklichen, bei denen Medikamente gegen Epilepsie nicht wirkten. Man versuchte erfolglos, Natan zu operieren. Er musste ständig damit rechnen, einen Anfall zu bekommen. Mit acht Jahren verlor er ein Auge, als er bei einem epileptischen Anfall gegen die Tischkante prallte.
An dieser Stelle wurde die Frau ungeduldig. Hastig erzählte sie, dass jeder Anfall, der sich nicht durch Medikamente regulieren ließ, Natans Gehirn noch mehr geschädigt hätte. Da Úlfheiður mit ihm alleine war und den ganzen Tag arbeitete, konnte sie sich nicht länger um ihn kümmern, als sich sein Zustand verschlechterte. Daher zog Natan in ein Heim für behinderte Kinder und kam nur für kurze Besuche und für zwei Wochen in den Sommerferien nach Hause. Dort lebte er etwa fünfzehn Jahre, bis er zu alt für das Heim wurde, in die neue Einrichtung zog und starb. Auch wenn Úlfheiðurs Beschreibung kalt und brutal war, bezweifelte Dóra, dass sie immer so gewesen war. Sie musste ihr Kind am Anfang genauso geliebt haben wie andere Mütter.
Úlfheiður konnte nicht viel über die neue Einrichtung sagen, sie war nicht oft dort gewesen, da sie kein Auto hatte und in dieses Geisterviertel kein Bus fuhr. Die wenigen Male, die sie im Heim gewesen war, hatte sie kaum Leute getroffen. Sie erinnerte sich eigentlich nur an eine unglaublich schicke Frau, die sie abfällig musterte, als sich beim Gespräch herausstellte, dass dies Úlfheiðurs erster Besuch war, zwei Monate nach Eröffnung des Heims. Zum ersten Mal klang Úlfheiðurs Stimme nicht mehr so gleichgültig, und sie regte sich über die andere Mutter auf, die »ihrem Sohn wie ein Schatten gefolgt ist, obwohl er sie überhaupt nicht wahrgenommen hat. Natan hat mich wenigstens registriert und wollte, dass ich da bin.« Dóra hatte keine Lust, noch mehr über Úlfheiðurs Konflikt mit Tryggvis Mutter zu hören, und lenkte das Gespräch auf Jakob, aber Úlfheiður konnte sich kaum an ihn erinnern. Sie sagte, sie sei nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass er den Brand gelegt hätte, das hätte genauso gut jemand anders gewesen sein können. Aber sie wollte in diesem Zusammenhang auf keinen Fall irgendwelche Namen nennen, und Dóra hatte das Gefühl, dass sie ihr mit dieser Äußerung nur einen Gefallen tun wollte.
Gegen Ende des Gesprächs fragte Dóra vorsichtig nach Natans Sexualtrieb, aber seine Mutter antwortete, darüber hätte sie nie nachgedacht. Als sie sich kurz darauf voneinander verabschiedeten, sagte Úlfheiður, sie versuche, möglichst wenig an den Brand zu denken, sie hätte sich mit dem Tod ihres Sohnes abgefunden, schließlich sei von Geburt an klar gewesen, dass er nicht sehr alt werden würde. Während sie das sagte, starrte Dóra auf das Foto von Natan bei dem Familienfest, auf dem er breit lächelte, zufrieden mit dem Leben und ahnungslos, dass es in den Augen anderer nur ein langgezogener Todeskampf war.
Das Telefonat mit Úlfheiður hatte Dóra zwar zugesetzt, aber im Vergleich zu dem Gespräch mit Lísas Eltern war es das reinste Vergnügen. Aus Lísas Mutter war kaum mehr herauszukriegen, als dass sie und ihr Mann beschlossen hätten, das Verbrechen an ihrer Tochter zu vergessen, damit Lísa nicht noch nach ihrem Tod als Opfer durch das Rechtssystem gezerrt wurde und die Zeitungen den Fall ausschlachteten. Sie bestätigte, dass Einvarður ihnen dabei geholfen hätte, die weitere Untersuchung des Falls zu stoppen, bestritt jedoch, dass er irgendeinen Einfluss auf ihre Entscheidung gehabt hatte. Anschließend holte sie ihren Mann ans Telefon, der vor allem versuchte, Dóra davon abzuhalten, bei ihrem Antrag auf Wiederaufnahme des Falls Lísas Name zu erwähnen. Darauf konnte Dóra auf keinen Fall eingehen, und der Vater versuchte ziemlich lange, sie umzustimmen. Dóra redete sich geschickt heraus und versuchte gleichzeitig, ihm Namen des möglichen Vergewaltigers ihrer Tochter zu entlocken. Wenn der Mann die Wahrheit sagte, und er wirkte durchaus glaubwürdig, hatte er lange darüber nachgedacht, ohne der Sache auf den Grund zu kommen. Das Telefonat endete damit, dass er Dóra noch ein letztes Mal anflehte, seine Tochter in Frieden ruhen zu lassen.
Die übrigen
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