Feuernacht
Ich hatte den Eindruck, dass sich die Bewohner noch nicht richtig eingelebt hatten und die Mitarbeiter noch nicht an ihren neuen Arbeitsplatz gewöhnt waren. Im Vergleich mit älteren Heimen, die ich gesehen habe, wirkte alles ein bisschen dilettantisch.«
»Kannst du das genauer beschreiben?«
»Ach, ich fand die Mitarbeiter ein bisschen zu jung und manchmal etwas ungeschickt im Umgang mit den Bewohnern.« Sveinn merkte, dass Dóra mehr in seine Worte hineininterpretierte, als er beabsichtigt hatte, und fügte schnell hinzu: »Nicht, dass sie sie irgendwie schlecht behandelt hätten, ihnen fehlte nur die Erfahrung. Ich habe zum Beispiel mitbekommen, wie sich Mitarbeiter in Anwesenheit der Bewohner über sie unterhalten haben, so als wären sie Luft, und das ist wirklich total unangebracht.« Er setzte den Film in Gang, anscheinend ein bisschen nervös. »Vielleicht sieht man das in einer Einstellung.«
Die Qualität des Films, der auf allen drei Bildschirmen ablief, hätte besser ein können. »Ich spule mal zu den interessanteren Stellen vor. Sagt Bescheid, wenn ich anhalten oder zurückspulen soll.« Sie schauten konzentriert zu, und Dóra gab Matthias ein Zeichen, als Glódís auf dem Bildschirm auftauchte. Die Heimleiterin stand mit verschränkten Armen neben einer Mitarbeiterin, die sich um eine junge Frau kümmerte. Die Patientin saß mit einem bunten Ball im Schoß auf einem Stuhl und wirkte völlig abwesend. Die Mitarbeiterin legte die eine Hand der jungen Frau an ihre Lippen und die andere auf den Ball: »Ball.« Dann löste sie ihren Griff, formte mit den Fingern ein Zeichen, ließ das Mädchen ihre Finger anfassen und brachte die Finger des Mädchens dann in dieselbe Position. »Zeichensprache?«, fragte Matthias.
Sveinn nickte. »Das Mädchen war blind, gehörlos und geistig behindert. Die Frau ist Ergotherapeutin oder irgendwas in der Richtung. Ich weiß nicht mehr, wie sie und das Mädchen hießen.«
»Sigríður Herdís Logadóttir.« Dóra konnte die Namen der Bewohner inzwischen auswendig. Sigríður Herdís war die Einzige, die nicht hören und sehen konnte. Dóra sah, wie sie den Ball und andere Gegenstände, die die Therapeutin ihr gab, betastete. Jedes Mal wiederholte die Therapeutin die Übung, eine Hand auf den Gegenstand, die andere auf ihre Lippen, nannte den Namen des Gegenstands, und dann übten sie das Zeichen gemeinsam mit den Händen. Ab und zu erkannte das Mädchen den Gegenstand, der in ihrem Schoß lag, und formte zuerst das Zeichen, was ein Lächeln und aufmunternde Berührungen der Therapeutin zur Folge hatte. Glódís stand die ganze Zeit reglos daneben und beobachtete sie. »Ist das eine der ersten Aufnahmen, die du gemacht hast?«
»Ja, die Zeitabfolge stimmt. Warum fragst du?«
»Ich wundere mich nur über die Leiterin. Sie steht doch bestimmt da, um zu kontrollieren, ob alles richtig läuft. Das war doch bestimmt nur am Anfang deiner Aufnahmen so, oder?«
»Stimmt, sie war mir gegenüber zuerst ziemlich skeptisch, aber dann hat sich alles eingespielt, und sie war nicht mehr so präsent. Und ich hatte gedacht, die Bewohner könnten sich von mir gestört fühlen, nicht die Leiterin.«
Als der Film weiterlief, stand Glódís nicht mehr mit abweisendem Gesicht in jeder Ecke. Am Anfang schauten sie sich jede Einstellung ganz genau an, aber dann baten sie Sveinn, den Film schneller ablaufen zu lassen. Die endlosen Mahlzeiten und unterschiedlichen Therapien waren nicht sehr aufschlussreich, und es war unangenehm, das Leben der verstorbenen Bewohner wie Voyeure zu beobachten. In einer Einstellung erschien der junge Mann, der in der schicksalhaften Nacht gearbeitet hatte, und Sveinn stellte den Film wieder langsamer. »Der ist bei dem Brand umgekommen. Ein unglaublicher Zufall, dass sein Kollege nicht auch gestorben ist. Der lag krank zu Hause, habe ich jedenfalls gehört.«
»Ist das wichtig?«, fragte Matthias und warf Dóra einen Blick zu.
»Ich weiß nicht.« Sie wandte sich an Sveinn: »Gab es tagsüber auch Wachpersonal? Oder nur nachts und am Wochenende?«
»An den Wochentagen waren jede Menge Leute im Haus, da brauchte man kein zusätzliches Wachpersonal, das war nur nachts da. Am Wochenende waren sie bis mittags nur zu zweit, dann sind weitere Mitarbeiter gekommen, um das Mittagessen auszugeben und Gäste in Empfang zu nehmen. Ich habe sonntagmorgens öfter gefilmt, da war es immer so schön ruhig. Der verstorbene Wachmann war ein prima Kerl, sehr nett zu den
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