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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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Bewohnern und ganz relaxed, so wie die anderen Nachtwachen auch. Einmal sind seine Schwester und ein Freund vorbeigekommen und haben mitgeholfen. Die haben allerdings so gerochen, als hätten sie eine lange Partynacht hinter sich.«
    Besuche bei den Mitarbeitern verkomplizierten den Fall ungemein, und Dóra überlegte, ob sich Lísas Vergewaltiger nur finden ließ, wenn man alle männlichen Einwohner des Landes zu einem DNA -Test schickte. Die Bewohner flimmerten über den Bildschirm, und Dóra erkannte sie alle. Auch Jakob tauchte ein paarmal auf. In einer Einstellung sah er sehr schlecht aus, quengelte ständig, er wolle nach Hause, woraufhin er immer wieder die Antwort bekam, dies sei sein neues Zuhause, er solle sich lieber mit etwas Nettem beschäftigen, als die ganze Zeit zu jammern. Als Jakob ganz plötzlich eine Lampe vom Nachttisch fegte und wütend durchs Zimmer lief, brach der Film ab. Bei anderen Aufnahmen wirkte er traurig und nahm nur halbherzig an den Aktivitäten teil. Tryggvi erschien am seltensten, und Dóra nahm an, dass das mit seinem Autismus zusammenhing und er seine Ruhe haben wollte. Er war nur zweimal zu sehen, beide Male in seinem Zimmer. Beim ersten Mal zeichnete er etwas, das wie ein Gesicht ohne Augen und mit einer Maske vor der Nase aussah, und beim zweiten Mal starrte er in die Luft und wiegte sich langsam vor und zurück. Die Wand in seinem Zimmer war fast ganz mit seinen Zeichnungen bedeckt, immer mit dem altbekannten Motiv: eine Figur ohne Augen mit einem weit geöffneten Mund, etwas abseits eine weitere Gestalt, die einen dreigeteilten Ring in die Höhe hob, und auf allen die seltsame Formel 08 INN . Dennoch waren die Bilder nicht alle genau gleich – als die Kamera langsam über die Wand glitt, konnte man auf einigen von ihnen Flammen erkennen.
    »Weißt du, was die Bilder darstellen sollen?«, fragte Dóra. »Zum Beispiel diese Figur, die immer liegt?« Sie hegte den Verdacht, dass es Lísa sein könnte. Das Mädchen musste immer gelegen haben, und ihre Augen waren nicht zu sehen, da sie immer zu waren. Aber warum riss die Figur den Mund so weit auf? Vielleicht blieb das das Geheimnis des Künstlers und würde nie enthüllt.
    »Keine Ahnung, aber er war total besessen davon. Ihr hättet mal sehen sollen, wie er das gemacht hat, ich habe eben vergessen, euch darauf hinzuweisen. Das ist alles mit einer Linie gezeichnet, er führt den Bleistift die ganze Zeit über das Blatt.« Sie warteten, während Sveinn zu der Stelle zurückspulte, an der Tryggvi zeichnete. Dann starrten sie schweigend auf die merkwürdige Zeichentechnik. Der junge Mann zögerte nicht eine Sekunde und zog den Bleistift mit gleichbleibender Geschwindigkeit über das Blatt. »Ich bin mir sicher, dass er das mit der kürzestmöglichen Linie und möglichst wenigen Schnittpunkten macht. Er hat nie innegehalten, um sein Bild anzuschauen. Wahnsinn!«
    Auf dem Monitor hielt Tryggvi das Bild hinter seinem Rücken in die Kamera, ohne aufzuschauen. »Vielen Dank«, sagte eine Stimme, und eine Hand wurde ausgestreckt, um das Bild entgegenzunehmen, wobei die Kamera leicht ins Wackeln kam. »Er hat mir das Bild geschenkt. Wahrscheinlich hatte er kein Tesafilm mehr, um die Bilder aufzuhängen, und wusste nicht, was er damit machen sollte.«
    »Unglaublich.« Dóra starrte auf die Wand, die jetzt die gesamte Bildfläche ausfüllte. »Ich weiß nicht, ob ich diese Bilder bei mir zu Hause aufhängen würde. Sie sind ein bisschen deprimierend, aber ihn scheinen sie ja nicht gestört zu haben.«
    »Tja, ich weiß nicht, als ich das nächste Mal da war, waren sie weg, und der Junge hatte keine Zeichenutensilien mehr. Ich habe nie verstanden, warum sie ihm das weggenommen haben, aber vielleicht hatten die Bilder einen negativen Einfluss auf ihn. Allerdings wirkte er danach noch trauriger, obwohl er vorher schon keine Stimmungskanone war.« Sveinn spulte schnell über eine Aufnahme aus dem Flur und schaltete dann wieder auf normales Tempo.
    Dóra taten schon die Augen weh, aber plötzlich wurde sie wieder aufmerksam. Der Kameramann ging durch den Flur und machte einen kurzen Schwenk in jede Wohnung. »Kannst du mal kurz anhalten?« Auf dem Bildschirm erschien Wohnung Nummer sechs. Dort lag jemand im Bett; das dunkle, kurzgeschnittene Haar hätte ebenso gut von einer Frau wie von einem Mann sein können. »Wer ist das?« Dóra hatte bei der Kamerafahrt durch die Wohnungen automatisch Buch über ihre Bewohner geführt. Sie waren alle

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