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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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trafen nicht unbedingt auf Jakobs Fall zu. Erstens wurde ein Fall wiederaufgenommen, wenn neue Beweise aufgetaucht waren, zweitens, wenn die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder der Richter strafbare Methoden wie gefälschte Beweise und falsche Zeugenaussagen benutzt hatten, um zu einem Urteil zu kommen, drittens, wenn es Anhaltspunkte dafür gab, dass die ursprünglich angeführten Beweise falsch beurteilt worden waren, und viertens, wenn es schwerwiegende Fehler im Prozessverlauf gegeben hatte. Das Oberste Gericht musste zunächst nur einer Wiederaufnahme zustimmen. Dóra musste also keine perfekte Verteidigung vorlegen, sondern nur beweisen, dass eine dieser Bedingungen eindeutig zutraf.
    Dóra hatte noch nichts gefunden, das darauf hindeutete, dass sich Polizei, die Staatsanwaltschaft oder der Richter unangemessen verhalten hatten, wobei man sich durchaus fragen konnte, ob Lísas Schwangerschaft nicht ausführlicher hätte behandelt werden sollen. Der Obduktionsbericht war zwar Teil der Prozessunterlagen, aber dieser Punkt war vor Gericht nicht abgehandelt worden. Dóra wollte sich am ehesten auf eine falsche Beurteilung von Beweismitteln stützen, wobei sie nicht nur an Lísas Zustand dachte, sondern auch an Jakobs Beschreibung des Engels mit dem Koffer. Wenn es stimmte, dass Jakob versucht hatte, der Polizei davon zu erzählen, war seine Aussage als Unsinn abgetan worden, zumindest fand Dóra in den Unterlagen keinen Hinweis darauf. Sie liebäugelte allerdings auch mit der vierten Bedingung über den fehlerhaften Prozessverlauf, und zwar im Hinblick auf Aris Verhalten. Es war zwar schwierig zu beweisen, dass seine Interessen nicht mit denen seines Klienten übereingestimmt hatten, aber Dóra war davon überzeugt, dass das der Fall war. Wobei es natürlich am allerbesten wäre, neue Beweise zu finden.
    Während Dóra über die Formalitäten nachdachte, drängten sich ihr viel unangenehmere Fragen auf: War Jakob am Ende vielleicht doch der Täter? Vielleicht war er schlauer, als ihr bewusst war, und hatte tatsächlich sämtliche Türen zu den Appartements offengehalten, so dass das Feuer freien Weg hatte. Vielleicht hatte Jakob doch größeres Organisationstalent, als sie dachte. Vielleicht ließ sie sich von seinem unschuldigen Äußeren blenden. Vielleicht waren die Geschichten der Heimleiterin und des Anwalts über Jakobs aggressives Verhalten bedeutsamer, als Dóra wahrhaben wollte. Womöglich würde es ihr helfen, Filmausschnitte vom Heimalltag zu sehen, falls der Kameramann diese noch hatte und ihr zeigen würde. Dóra wusste viel zu wenig über die Abläufe. Sie würde auf dem Film zwar garantiert niemanden sehen, der durchs Heim lief und automatische Türschließanlagen kontrollierte oder auf eine Leiter stieg, um die Löschanlage unter die Lupe zu nehmen, aber vielleicht bekam sie ein besseres Gefühl für die Bedingungen, die diese folgenschwere Kette von Ereignissen ausgelöst haben konnte. Für einen Freispruch brauchte sie einfach mehr Beweise, aber im Augenblick musste sie wohl auf das alte Sprichwort vertrauen: Kleinvieh macht auch Mist.
    Dóra musste wieder an Jakobs Beschreibung von dem Engel mit dem Koffer denken und seufzte. Ein solches Geschöpf landete zum ersten Mal auf ihrem Tisch, aber im Moment wirkte ein Engel als Brandstifter genauso wahrscheinlich wie jeder andere.

17 . KAPITEL
    DIENSTAG ,
12 .  JANUAR 2010
    Dóra schloss den Internetbrowser, damit sie sich nicht dazu hinreißen ließ, sich durch die Nachrichten zu klicken. Sie musste anfangen zu arbeiten, und die Nachrichten waren ohnehin deprimierend. Früher waren Auslandsnachrichten immer interessanter gewesen als Inlandsnachrichten, aber das hatte sich nach dem Zusammenbruch der Banken schlagartig geändert. Isländisches – ja, bitte! Je mehr sie darüber las und von Kollegen hörte, die sich auskannten, desto abscheulicher wurde das Gesamtbild von der Vorgeschichte des Crashs. Dóra beneidete ihre Eltern auf gewisse Weise, denn sie schienen die Einzigen zu sein, die davon ausgingen, dass das alles nur ein großes Missverständnis war – obwohl sie Opfer dieser Verbrecher geworden waren und mehr als viele andere verloren hatten. Dóra vermisste die Zeiten, als noch alles gut lief, die Bevölkerung sich über die Medaille der Handballmannschaft bei den Olympischen Spielen gefreut hatte und die Erfolge der Isländer im Ausland scheinbar durch nichts aufzuhalten waren. Inzwischen war das alles so unwirklich.
    Dóra nahm sich

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