Feuernacht
blieb ihre Tochter stehen, um zu winken; das Spiel war längst vergessen – und längst verloren.
»Ich glaube, es bringt nicht viel, sie anzufeuern.« Dóra warf unauffällig einen Blick auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. »Sie scheint sich nicht richtig zu konzentrieren.« Das Handy in Dóras Jackentasche klingelte. Sie kannte die Nummer nicht, aber die Stimme war vertraut. Es war Jakobs Mutter Grímheiður. Zunächst bereute Dóra es, rangegangen zu sein, da sie sich am Wochenende möglichst nicht von der Arbeit stören lassen wollte, aber als Grímheiður ihr Anliegen vorgebracht hatte, sah die Sache anders aus. Dóra dankte ihr für den Anruf und verabschiedete sich.
»Was war denn?« Matthias erschrak, als er Dóras Gesicht sah.
»Jakob ist im Landeskrankenhaus, er wurde gestern Abend schwer verletzt und wird am Auge operiert.«
Matthias wandte sich wieder dem Spiel zu. »Was ist denn passiert?«
»Jósteinn hat ihn beim Essen angegriffen. Mit dem Besteck. Jakob kann froh sein, wenn er sein Auge nicht verliert. Soweit ich es verstanden habe, hat er auch noch andere Verletzungen. Das muss ganz schön heftig gewesen sein.«
Das reichte, um Matthias’ Aufmerksamkeit endgültig vom Spiel abzulenken. »Was? Und ich dachte, er wäre Jakobs Wohltäter oder so was. Er bezahlt doch die Untersuchung, weil er Jakob so mag, oder? Haben sie sich gestritten?«
»Nein, anscheinend nicht. Der Angriff war völlig grundlos, wenn Jakobs Mutter recht hat.« Dóra steckte ihr Handy wieder ein. Es war klar, dass dieser Vorfall entscheidenden Einfluss auf die Wiederaufnahme des Falls hatte. Jósteinn würde bestimmt nicht weiter zahlen, wenn er schon so weit gegangen war. »Ich weiß gar nicht, warum ich so überrascht bin. Der Mann ist krank und zu allem fähig. Ich kann froh sein, wenn er mich nicht angreift.«
Matthias fand das überhaupt nicht witzig. »Du gibst diesen Fall jetzt ab, so einfach ist das!«
Dóra hörte ihm gar nicht zu. Sie war nicht erpicht darauf, Jósteinn noch mal zu treffen, aber der Fall war trotz allem interessant, und sie wollte Jakob unbedingt aus dem Sogn holen. Sie wusste, dass sie sich emotional nicht so sehr in den Fall reinhängen durfte, aber leider hatte sie ihre Gefühle nicht immer unter Kontrolle, und Jakob konnte einem einfach nicht egal sein. »Ich glaube, ich sollte ihn im Krankenhaus besuchen, ihm Blumen oder Schokolade mitbringen.«
Matthias zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Spiel zu. »Darfst du das? Steht er nicht unter Polizeiaufsicht?«
»Ich denke aber, dass das wegen meiner Beteiligung an dem Fall möglich sein wird.«
»Dann solltest du nicht länger warten, dieses Vorrecht wirst du wohl nicht mehr lange genießen. Jósteinn zahlt bestimmt nicht weiter, wenn sein Verhältnis zu Jakob eine solche Wende genommen hat.« Matthias klang verärgert. »Ich verstehe einfach nicht, warum du gerade jetzt so einen Fall annehmen musst. Es gibt doch überall Aufträge für Anwälte, im Überfluss sogar, Finanzdelikte, Papierkram, der zwar unschön, aber auch ungefährlich ist.«
»Es ist gar nicht so einfach, an solche Aufträge ranzukommen. Die meisten werden über Beziehungen vergeben, außerdem können wir kaum mit den großen Kanzleien konkurrieren, die jede Menge Fachanwälte zur Verfügung haben. Gegen die kommen wir einfach nicht an.« Dóra sagte ihm nicht, dass Schuldrecht und Wirtschaftskriminalität sie langweilten, und auch Bragi würde sich kaum von seinen geliebten Scheidungsfällen trennen wollen. »Ich mache weiter, es sei denn, Jósteinn zahlt nicht. Ich finde den Fall spannend, und wir ertrinken nicht in Aufträgen. Wir brauchen die Einnahmen, auch wenn der Fall vergleichsweise klein ist.«
»Die Bank hat sich bei mir gemeldet und mir einen Job angeboten«, sagte Matthias, ohne seinen Blick vom Fußballplatz abzuwenden. »Zwar für ein schlechteres Gehalt, aber die Umsätze sind ja auch nur noch ein Bruchteil dessen, was sie früher waren.«
»Das ist ja super!« Dóra schmiegte sich an ihn. »Bist du zufrieden?«
»Ich weiß nicht.«
»Wann hast du denn mit ihnen geredet?«
»Vorgestern.«
»Und warum hast du mir nichts davon erzählt?« Dóra wich wieder zurück, froh, noch keinen Brazilian-Waxing-Termin gemacht zu haben.
»Ich weiß nicht, ich brauchte einfach Zeit, um darüber nachzudenken. Im ersten Moment klingt es verlockend, aber ich muss mir das gut überlegen.« Er drehte sich und schaute ihr in die Augen. »Es hätte mich
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