Feuernacht
sie das Krankenhaus verlassen hatten. »Ist das dein Ernst?« Matthias blieb entsetzt stehen.
»Ich kann es nicht beweisen, aber es passt genau zu unserem Gespräch.«
Verärgert schüttelte Matthias den Kopf. »Ich weiß nicht, was verrückter ist, Jakob grundlos auf diese Weise anzugreifen oder um einen bestimmten Zweck damit zu erreichen.«
»Keine Frage, es ist natürlich noch verrückter, wenn er einen bestimmten Zweck damit erreichen will.« Dóra atmete die kühle Luft ein. »Der Mann ist nicht normal. Und zu allem fähig.« Sie schaute an dem Gebäude hoch und sah Jakobs Gesicht im Fenster. Er beobachtete sie nicht, sondern spähte über das Krankenhausgelände in die Ferne, zum Haus seiner Mutter. Dóra drehte sich wieder zu Matthias. »Wenn ich recht habe, will Jósteinn den Auftrag auf jeden Fall fortführen.« Sie wies Matthias auf das Fenster und Jakobs traurigen Anblick hin. »Und dann mache ich weiter. Ich muss einfach.«
Matthias protestierte nicht.
22 . KAPITEL
SONNTAG ,
17 . JANUAR 2010
Der Jogger konzentrierte sich aufs Weiterlaufen, nahm ein Auto auf einem weit entfernten Parkplatz ins Visier und dachte nur daran, es zu erreichen. Erst dann würde er langsamer werden. Mit dieser Taktik wollte er der Versuchung widerstehen anzuhalten, die Hände auf die Knie zu legen und so tief einzuatmen, wie seine Lunge es aushielt. Im Herbst war er dieselbe Runde gelaufen, ohne zu schnaufen, aber an diesem ersten warmen, frostfreien Tag des neuen Jahres hatte er sich nach der Winterpause zu viel vorgenommen. Er war ganz alleine unterwegs, anders als im Frühling, wenn man kaum zehn Schritte machen konnte, ohne anderen Joggern zu begegnen. Denen würde es dann so ergehen wie ihm jetzt, während er einer der wenigen sein würde, die gut in Form waren. Für einen Augenblick vergaß er seine Müdigkeit, sah sich selbst in der Frühjahrssonne mit geradem Rücken und in gleichmäßiger Geschwindigkeit an den anderen feuerroten, verschwitzten Joggern vorbeiziehen.
Im dem Moment, als sein Selbstbild am eindrucksvollsten war, gab sein Körper auf. Plötzlich konnte er keinen Schritt mehr weiterlaufen, der Schmerz in seinen Atemwegen war unerträglich, sein Herz hämmerte wild, er hatte Blutgeschmack im Mund, und seine Beine brannten. Keuchend und schnaufend stand er auf dem Pfad und dachte darüber nach, ein Taxi nach Hause zu nehmen. Er musste eine lange Strecke zurücklaufen, und es gab kaum etwas Peinlicheres, als sich in Laufklamotten vorwärtszuschleppen. Doch aus diesem Plan wurde nichts, weil er kein Handy und kein Geld dabeihatte und weit und breit kein Taxi in Sicht war, obwohl es nicht mehr weit zur Bucht Nauthólsvík war. Er stöhnte laut. Dann sah er die Bank. Da konnte er sich ausruhen, seine schmerzenden Beine massieren und dann hoffentlich ohne Blamage nach Hause kommen – auch wenn er nur sehr langsam lief.
Die Sitzfläche der Bank war kalt, aber er gewöhnte sich schnell daran, so als hätte sein Körper einen gewissen Schmerzgrad erreicht, der sich nicht mehr steigern ließ. Die Bank war zwar weder bequem noch warm, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals so froh gewesen zu sein, sitzen zu können. Allmählich ließen die Schmerzen nach, aber dafür wurde ihm schnell kalt. Der eben noch angenehme Wind war jetzt kalt und beißend, und sein verschwitzter Körper kühlte rasch aus. Er konnte nicht lange auf der Bank sitzen bleiben, schaffte es aber noch nicht, wieder aufzustehen. Er schlug mit den Armen gegen seinen Brustkorb, wie sein Großvater es ihm als kleiner Junge beigebracht hatte. Das wirkte.
Als er sich warm geklopft hatte, zog ihn das Plätschern der Wellen in seinen Bann, und er hielt die Luft an, um es ganz und gar zu genießen. Das Geräusch war ganz leise, und er schaute über die Bucht und betrachtete das Meer. Plötzlich zerriss eine laute, metallische Melodie die Stille. Der Jogger zuckte zusammen; er hatte geglaubt, alleine zu sein, und fand es unheimlich, dass jemand in der Nähe war, ohne dass er ihn bemerkt hatte. Er schaute sich um, sah aber niemanden. Das Klingeln hielt an, die Melodie wiederholte sich, diesmal lauter und eindringlicher. Schnell fand er den Auslöser des Geräuschs, sah einen blauen Lichtschein unter der Bank und bückte sich nach dem dämlichen Handy. Auf dem blinkenden Display stand
Mama
. Er dachte kurz darüber nach ranzugehen, war aber noch so außer Atem, dass er sich nicht zutraute, dieser Mutter zu erklären, wer er war und warum er
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