Feuerprinz
Trotzdem wollte er nicht so schnell aufgeben. »Heute Morgen haben Salas Priesterinnen den Kadaver dieses Falbrindes vor ihrem Abbild gefunden. Der Tempel ist befleckt … Wo war ihre Hohepriesterin? Man hat sie gesucht, doch sie war unauffindbar.«
Lin suchte hilflos den Blick der zweiten Priesterin.
»Er sagt die Wahrheit, Lin«, erklärte Jevana. »Aber wie seltsam, dass es wieder einmal ein Falbrind aus den Ställen seines Vaters ist und dass es schon wieder kaum Blut gibt! Es scheint, als würden ausschließlich Falbrinder aus euren Ställen verschwinden.«
»Willst du mich etwa beschuldigen, Priesterin?«, polterte Braam.
Doch dieses Mal war es Lin, die Jevana beruhigte und ihn mit einem kühlen Blick bedachte. »Wir warten, was Elven sagt.«
Als Elven wenig später mit düsterer Miene zu ihnen trat, verspürte Braam tiefe Zufriedenheit. Mit versteinertem Gesicht fragte er Lin, wo sie gewesen sei.
»Kräuter sammeln im Wald … mit Vay«, antwortete sie ohne Umschweife.
Es war eine Lüge! Braam spürte es sofort, und auch Elven schien ihr nicht zu glauben.
Lin mied den Blick ihres Gefährten. Sie bemühte sich verzweifelt darum, ihre angeschlagene Würde zu wahren. »Warum ist er hier … Braam ist von meinem Vater verbannt worden. Schick ihn fort!«
Braam hätte ihr gerne eine Ohrfeige verpasst, doch Elvens Antwort entschädigte ihn für seinen unerfüllbaren Wunsch.
»Ich schätze Braam. Sowohl dein Vater als auch deine Mutter lassen mir freie Hand in meinen Entscheidungen. Und Braam ist ein verlässlicher Gefolgsmann.« Elvens Lippen schienen sich kaum zu bewegen, als er leise fortfuhr: »Anders als meine Gefährtin, die heimlich verschwindet, ohne mir zu sagen, wohin sie geht und was sie tut.«
»Ich bin nicht dein Eigentum«, hielt Lin ihm entgegen.
Braam konnte sehen, wie Elvens Hände vor Zorn zu zittern begannen, bevor er sie hinter seinem Rücken verschränkte. »Geh! Wir werden unser Gespräch später fortsetzen.«
Braam grinste, als kurz darauf auch die zweite Priesterin von Elven in die Unterstadt zu ihrer Sippe geschickt wurde. Er sah zu, wie Lin gedemütigt in den Gärten verschwand, ebenso wie ihre Dienerin kurz zuvor. Wenn man es recht bedachte – was unterschied sie eigentlich von der kleinen Stechmücke? Sie war auch nur ein Weib wie all die anderen. Endlich gab es jemanden, der sie behandelte, wie sie es verdient hatte.
Lin wusste nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Die Art, wie Elven sie fortgeschickt hatte, war demütigend. Sein Verhalten verunsicherte und verärgerte sie gleichermaßen. Er hatte Braam gegen ihren ausdrücklichen Wunsch zu seinem Gefolgsmann berufen. Braam war sich Elvens Rückhalt so sicher, dass er sich ihr gegenüberFrechheiten erlaubte. Elven hatte zudem keinerlei Anstalten gemacht, Braam in seine Schranken zu weisen. Dass er wütend auf sie war, rechtfertigte sein Verhalten nicht.
Als sie den Wohnpalast betrat und die Richtung zum Thronsaal einschlug, kam ihr Vay entgegen. Vays Gesichtsausdruck erinnerte Lin an ein Kind, das in eine saure Frucht gebissen hat. Ihre Dienerin versperrte ihr den Weg und zischte: »Vielleicht ist das tote Falbrind im Tempel eine Mahnung oder Strafe dafür, dass du bei den Waldfrauen warst. Du betrügst nicht nur Elven, sondern auch die Göttin … du betrügst ganz Engil.«
Bitte nicht das auch noch!
Lin schob Vay beiseite – eine Geste, die sie große Überwindung kostete. Sie war schon immer zu sanftmütig gewesen, um sich durchzusetzen oder andere in die Schranken zu weisen. Mit Ilana hätte Vay niemals gewagt so zu sprechen. Lin versuchte Vay zu beruhigen. »Du bist sehr jung. Überlasse das Urteilen über mich anderen. Du hast geschworen zu schweigen. Bei Sala!«
»Ich werde schweigen«, antwortete Vay zerknirscht und gab den Weg frei. Lin ahnte, dass sie sich auf Vays Schwur nicht verlassen konnte, und fragte sich, ob es vielleicht klug wäre, sie in die Dienste von jemand anderem zu geben. Doch sie entschied, dass es besser war, wenn Vay vorerst in ihrer Nähe blieb; sich Gedanken über Vay zu machen, dafür wäre später noch Zeit.
Lin schickte Vay mit einer Aufgabe in ihre Räume. Sie wollte mit ihrem Vater sprechen, bevor Elven zurückkehrte. Vielleicht konnte Tojar Elven klarmachen, dass sie nicht sein Eigentum war oder ihm Rechtfertigung für jeden Schritt schuldete, den sie tat.
Lin sah auf den Stundenmesser vor dem Thronsaal – ein Gebilde von drei auf Sockeln übereinander gebauten
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