Feuerprinz
Reich? Aber warum war es so dunkel? Salas Reich war voller Licht. War das hier vielleicht eine Vision? Doch dann spürte sie das Pochen in ihrem vergifteten Fuß. Der Schmerz holte sie ein. Sie war nicht in Salas Reich, und das hier war auch keine Vision. Sie lebte … und sie flog … nein, sie fiel! Sie stürzte wie ein Stein vom Himmel Richtung Erde!
Sofort schüttelte Lin ihre Benommenheit ab. Mit den Händen griff sie nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, doch da war nichts außer Luft um sie herum. »Dawon!« Ihre Stimme klang erschreckend schwach. Hatte er sie fallen lassen? Hatte er gedacht, sie sei tot? Verzweifelt rief sie immer wieder seinen Namen, obwohl sie nicht viel mehr als ein Flüstern zustande brachte.
Plötzlich tauchten zwei starke Arme aus dem Nichts auf und packten sie. Es gab einen schmerzhaften Ruck, als Lin sich in Todesangst an den muskulösen Körper klammerte. Entsetzt starrte sie in das schöne Gesicht mit den leuchtend blauen Augen. Das war nicht Dawon! Elven hatte die Greife geschickt, sie zu suchen. Dies war das Ende ihrer Flucht.
Der Greif stieg mit ihr hinauf in den sternklaren Himmel –höher und höher. Seine Schwingen glitten in den Aufwind … Von der Seite näherte sich ein anderer Greif. Lin erkannte dunkle Schwingen. Es war Dawon, der versuchte, zu ihr zu kommen, doch von einem anderen Greif attackiert wurde, der ihn abzudrängen versuchte. Wie ein Raubvogel fiel er Dawon im Sturzflug an. Die beiden Greife überschlugen sich und wurden zu einer federbesetzten Kugel mit um sich schlagenden Schwingen – schwarzen und weißen.
Immer wieder versuchte der weiße Greif, seine Klauen in Dawon zu schlagen, um dessen Flügel zu zerfetzen. »Dawon, du musst deine Klauen einsetzen, um ihn abzuwehren«, wollte Lin ihm zurufen, doch aus ihrer Kehle kam nur ein leises Wispern. Dawon hatte sie nicht gehört; und wenn er sie gehört hätte, wäre es vergeblich gewesen. Dawon besaß zwar Klauen, kam jedoch überhaupt nicht auf den Gedanken, sie als Waffe zu seiner Verteidigung einzusetzen.
Vor ihren Augen stürzten die beiden Greife in die Tiefe. Dann lösten sie sich voneinander, um wieder ein Stück höher zu steigen. Der weiße Greif griff erneut an. Lin konnte nicht mehr hinsehen. Es kam ihr vor, als würde ein Greifvogel gegen einen Singvogel kämpfen.
»Dawon, pass auf! Seine Klauen!«, schaffte sie es endlich zu rufen, doch ihre Stimme war so schwach, dass sie nicht sicher war, ob er sie gehört hatte.
Der Greif, der sie gepackt hatte, trug sie vom Kampfgeschehen fort, ohne dass Lin sich hätte wehren können oder auch nur Einspruch erheben. Seine mitleidlose Stimme hallte in ihren Ohren: »Arjawon bringt die Königin zurück nach Engil … Wenn sie nicht freiwillig zurückkehrt, müssen Salas Priesterinnen in Muruks neuem Tempel sterben. An dem Tag, an dem der letzte Stein gesetzt wird. So hat Elven es beschlossen.«
Lin fühlte die Worte des Greifen langsam in ihren Verstand sickern. Elven wollte Salas Priesterinnen opfern … die Mädchen und Jevana! Sie sollten sterben, weil sie geflohen war. Mit letzter Kraft hob Lin ihren Kopf und sah, wie Dawon noch immer verzweifelt versuchte, gegen den viel stärkeren weißen Greif zu bestehen. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen.
Er wird unterliegen.
Dawon besaß nicht die nötige Erfahrung für einen Kampf. Er sollte nicht um ihretwillen sterben – niemand durfte um ihretwillen sterben. Nie mehr!
»Dawon … gib auf!«, rief Lin, so laut sie konnte, und erhaschte einen kurzen Blick auf sein bestürztes Gesicht. Er wusste ebenfalls, dass er nicht als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen konnte.
Sie spürte, wie ihre innere Gegenwehr erlahmte. »Ich kehre nach Engil zurück. Aber lasst Dawon in Ruhe!« Dann überließ sie sich dem Greif. Vielleicht wäre sie längst tot, wenn sie in Engil ankamen.
Doch der Greif kam nicht weit. Etwas rammte ihn von der Seite, und zwar so überraschend, dass er sich überschlug und trudelnd der Erde entgegenstürzte. Obwohl Lin nicht gesehen hatte, wer oder was ihn angegriffen hatte, erkannte sie, dass eine seiner Schwingen gebrochen war und in einem seltsam verdrehten Winkel von seinem Rücken abstand. Der Greif wusste, er würde zu Tode stürzen, doch auf seinem Sturzflug hielt er sie noch immer umklammert. Ein weiteres Mal wurden sie angegriffen, dieses Mal von der anderen Seite. Lin schrie, als sie einen riesigen Schnabel und die Schwingen eines Raubvogels vorbeischießen sah.
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