Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
einfach darum, nicht alleine in die Spiegelwelt zu gehen. Okay? Manchmal vergesse ich, wie sehr dein Wesen mit diesem Ort verstrickt ist. Natürlich habe ich kein Recht, dir zu verbieten, in deiner persönlichen Welt allein zu sein. Das sehe ich ein! Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, dass du Angst hast, du könntest dich mal in deinen Träumen verlaufen? So wie meine Mutter?“
Natürlich wusste sie das. An diesen Abend, als sie ihm das erzählt hatte, dachte sie jeden Tag mindestens hundertmal. Sie nickte.
„Ich sollte wirklich verständnisvoller sein. Deine Welt ist kompliziert und ich sollte mich nicht einmischen oder einschleichen, wie ich es schon mal getan habe. Verzeihst du mir?“
Sie nickte noch einmal, öffnete wieder die Augen, die gefährlich feucht waren, und zog die Karteikarte aus dem Briefumschlag. Leider zitterte ihre Hand diesmal eindeutig. Aber Gerald tat so, als würde er es nicht sehen, und widmete sich wieder seiner eigenen Arbeit. Und was noch besser war – er versuchte, so zu tun, als habe dieses Gespräch gar nicht stattgefunden.
Er machte lustige Bemerkungen über die Leute, deren Adressen sie aufschrieben, zum Beispiel über seinen Freund Pang, der von seiner Ururgroßmutter Krallen geerbt hatte, die dreimal am Tag gestutzt werden mussten („Das Zeug bedeckt nach einer Woche den ganzen Boden der Duschräume und er tut jedes Mal so, als wäre er’s nicht gewesen!“), und versuchte so lange den Namen Kgsmidlngla korrekt auszusprechen, bis Maria glockenhell auflachte.
Es war vorbei. Das Gefühlsgewitter, das Maria so sehr zugesetzt hatte, war vorübergezogen und sie konnte wieder normal sein und so tun, als wäre Gerald nur ein Junge von sehr vielen anderen Jungen auf der Welt. So war es am besten. So war es erträglich.
Als Scarlett an diesem Abend aus dem Faulhund-Gehege kam, sah sie noch schlimmer aus als sonst.
„Wie eine Untote“, stellte Lisandra fest und kam damit der Wahrheit sehr nahe, denn es war nur dem heiligen Riesenzahn von Hanns zu verdanken, dass Scarlett nicht schon fünfzigmal von ihrer eigenen Magikalie in die Luft gesprengt worden war.
Anstrengend war es aber trotzdem. Scarlett schleppte sich ins Bad, um Ruß und andere Nebenwirkungen von sich abzuwaschen, und schwankte vor Erschöpfung, als sie wieder aus der Festung kam und sich neben ihre Freunde an den Seerosenteich setzte, um den Tag ausklingen zu lassen.
„Die Sonne scheint diese Woche wie verrückt und du verbringst deine Tage mit Begeisterung in einem muffigen Keller“, sagte Thuna verwundert. „Willst du es nicht etwas langsamer angehen lassen?“
„Nein!“, rief Scarlett strahlend.
Sie war wie ausgetauscht, seit sie merkte, wie ihre Kräfte durch das Lösen winziger Zauber von Golding anschwollen wie ein Gebirgsbach im Frühling. Ein reißender Strom ungeahnter Fähigkeiten durchfloss Scarletts Adern und das fühlte sich gut an. Auch wenn es bedeutete, dass sie mehr Arbeit in den Abbau bösartiger Energien stecken musste, als das bisher der Fall gewesen war.
Hätte Gerald nicht gewusst, dass Scarlett den heiligen Riesenzahn um den Hals trug, hätte er keine ruhige Minute gehabt. Als ihm Scarlett zum ersten Mal den Wolfsanhänger gezeigt und ihm verraten hatte, worum es sich eigentlich handelte, war er sehr erstaunt gewesen.
„Manchmal ist es mir unheimlich, wie wichtig du ihm bist“, sagte er. „Wichtiger als alles andere.“
„Mir auch. Aber es ist doch verständlich. Als wir Kinder waren, hatten wir nur uns.“
„Aber er ist kein Kind mehr“, sagte Gerald mit einem skeptischen Gesichtsausdruck.
„Wirst du jetzt endlich mal eifersüchtig?“, fragte Scarlett fröhlich. „Ich warte schon so lange darauf, dass du mir mal eine Szene machst!“
Doch er machte ihr keine Szene, sondern schaute sich den Wolfsanhänger nur ganz genau an und flüsterte ihr jeden Abend, wenn sie aus Goldings Keller kam, ins Ohr:
„Hoch lebe der gute Hanns!“, weil er so erleichtert war, dass es Scarlett gut ging.
So machte er es auch heute, als Scarlett zu ihnen kam und sich neben ihn setzte. Er nahm sie in die Arme, flüsterte ihr diesen einen Satz und noch ein paar andere Dinge ins Ohr und sah, wie Maria eilig aufstand, um den Seerosenteich zu verlassen.
„Wo willst du hin?“, rief Thuna.
„Nur was holen“, sagte Maria und weg war sie.
Gerald sah ihr beunruhigt hinterher. Er starrte noch länger in die Dunkelheit unter den Bäumen, in der Maria verschwunden war, und bereute es
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