Feuerscherben
»Mach das Medaillon auf.«
Ben sah, dass es dasselbe altmodische Medaillon war, das er auf dem Boden ihres Schlafzimmers gefunden hatte, nachdem Claire und er zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Sie war seinem Rat gefolgt und hatte eine neue dickere Kette dafür besorgt. Er hätte das Medaillon damals schon gern geöffnet, hatte der Versuchung aber widerstanden. Heimlich die blutigen Papiertücher für einen DNA-Test einzustecken, hatte als Eingriff in ihr Privatleben für eine Nacht gereicht. Jetzt strich er mit dem Daumennagel den beinahe unsichtbaren Schlitz entlang und drückte auf den Verschluss. Das Medaillon sprang auf, und zwei Schwarz-Weiß-Bilder kamen zum Vorschein.
Das Foto auf der linken Seite zeigte die erheblich jüngere Evelyn. Sie strahlte so lebhaft in die Kamera, wie Ben es nie bei ihr auf einem der professionellen Porträts bekannter Fotografen gesehen hatte. Das andere Bild war die Aufnahme eines jüngeren Mannes, der Andrew ziemlich ähnlich war, aber nicht ganz so klassisch gut aussah. Er hatte starke dynamische Gesichtszüge und lächelte, als wolle er die ganze Welt mit seinem Selbstbewusstsein herausfordern. Außerdem sah er Claire erstaunlich ähnlich.
Ben betrachtete die beiden Fotos eine volle Minute schweigend. Dann sah er auf. »Ist das Douglas?«, fragte er.
Claire nickte. »Douglas Campbell«, antwortete sie. »Mein Vater.«
Ihre Worte hallten durch die Stille, die nicht enden zu wollen schien. Deine Großmutter hat dir eindeutig bestätigt, dass Douglas dein Vater ist, als sie dir das Medaillon gab?«, forschte Ben nach.
»Ja. Sie sagte, Douglas hätte das Foto meiner Mutter zusammen mit einem von mir vom Tag meiner Taufe in der Taschenuhr seines Großvaters getragen. Sein letzter Wunsch vor seinem Tod sei gewesen, sie solle mir die Wahrheit über meine Abstammung sagen, sobald ich ihrer Ansicht nach alt genug dafür wäre.« Claire lächelte mühsam. »Großmutter erklärte damals, sie sei absolut nicht sicher, ob ich schon die nötige Reife dafür besäße. Leider läge die letzte Entscheidung bei ihrem Schöpfer, und der hätte ihren Zeitplan etwas vorgezogen. Das sollte heißen: Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie das Ganze entschieden sinnvoller organisiert.«
»Ich bin sicher, es wäre ihr gelungen«, antwortete er lächelnd. »Hat deine Großmutter auch erzählt, wie es zu der Beziehung zwischen Douglas und Evelyn gekommen ist?«
Theoretisch war Claires Erzählung glaubhaft. Doch Ben konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Evelyn eine ehebrecherische Beziehung mit dem jüngeren Bruder ihres Mannes gehabt hatte. Der Gedanke war der reinste Wahnsinn. Ebenso gut hätte man das moralische Verhalten von Mutter Teresa in Zweifel ziehen können.
»Wie Großmutter es darstellte, klang es ziemlich logisch«, sagte Claire. »Sie erzählte, Douglas wäre im Himalaja gewesen und hätte versucht, den Mount Everest zu besteigen, als Andrew sich mit meiner Mutter verlobte. Er kehrte erst unmittelbar vor der Hochzeit zurück, keine achtundvierzig Stunden vor der Zeremonie. Offensichtlich verliebte er sich auf Anhieb.
Am Hochzeitsmorgen versuchte er, Evelyn zu überreden, die Trauung abzusagen. Er behauptete, sie mache einen gewaltigen Fehler, den sie ihr Leben lang bereuen würde. Sie solle mit ihm nach Chile kommen und sich ihr schlechtes Gewissen beim Klettern in den Anden von der Seele arbeiten.«
»Natürlich kam eine Absage der Hochzeit für Evelyn nicht infrage«, ergänzte Ben. Wenn er sich gewaltige Mühe gab, konnte er sich gerade noch vorstellen, dass Evelyn sich in Douglas verliebt hatte. Doch es überstieg sein Fassungsvermögen, dass sie ihre Hochzeit abgesagt hätte, wenn dreihundert Gäste warteten und die Kathedrale schon mit Seidenbändern und weißen Rosensträußen geschmückt war.
»Nein, natürlich nicht.« Claire lächelte kläglich. »Meine Mutter ist das genaue Gegenteil von meiner Großmutter.«
»Das personifizierte perfekte Benehmen«, murmelte Ben. »Das ist eine ausgezeichnete Beschreibung«, stimmte sie ihm zu. »Und ich bin objektiv genug, um zu begreifen, weshalb sie so geworden ist. Meine Großeltern mütterlicherseits gehörten zu den ältesten Familien Philadelphias. Sie hatten ihr ganzes Geld verloren, waren aber entschlossen, den äußeren Anschein eines angenehmen Lebens zu wahren. Evelyn wurden die Regeln ihrer Klasse sozusagen mit der Muttermilch eingeflößt. Noblesse oblige. Man brachte ihr bei, dass zu
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