Feuerscherben
möchte.
»Evelyn war keine schlechte Mutter«, fuhr Claire fort, als wollte sie nicht, ungerecht sein. »In mancher Beziehung war sie sogar eine übertrieben perfekte Mutter. Sie erlaubte mir, meinen Hobbys nachzugehen. Ich durfte mir die Schule selber aussuchen und eigene Freunde wählen. Sie zeigte höfliches Interesse für alles, was ich tat, und lobte mich überschwänglich bei jedem Erfolg, und wenn er noch so banal war. Aber sie ließ mich niemals eng an sich heran. Ich konnte nicht erkennen, was sich hinter ihrer Öffentlichen Fassade aus makellos gepflegter Schönheit und aristokratischer Würde verbarg.
Natürlich war ich ebenso verklemmt und unsicher wie alle siebzehnjährigen Mädchen. Ich hätte meine Mutter unmöglich fragen können, ob es stimmte, dass sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Schwager gehabt hatte. Das verstehst du doch, oder?«
Ben musste zugeben, dass es nicht einfach gewesen wäre. »Wenn Andrew und Evelyn dir nicht die Wahrheit gesagt haben, wer war es dann?«, fragte er.
Claire verschob die Kristallschalen auf der Werkbank und ordnete sie instinktiv so, dass der Schliff das Licht in möglichst viele Regenbogenfarben zerlegte. Ben hatte den Eindruck, dass Tränen in ihren Augen schimmerten. Doch als sie wieder sprach, klang ihre Stimme kühl und beherrscht.
»Meine Großmutter erzählte es mir«, sagte Claire. »Sie hatte Krebs und bestand darauf, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden und in das alte Haus der Familie in Pittsburgh zurückzukehren. Sie erklärte, sie wolle in einem anständigen Bett zu ihrem Schöpfer zurückkehren und nicht mit Schläuchen in der Nase und lauter Nadeln im Arm.«
Plötzlich lachte sie herzlich. »Ehrlich gesagt, sie drückte sich erheblich drastischer aus als ich. Großmutter gehörte zu jenen Leuten, die einen Spaten niemals beim Namen nannte, wenn sie ihn auch als blöde Schaufel bezeichnen konnte.«
Ben lächelte unwillkürlich. »Ich habe eine ganze Reihe großartiger Geschichten über sie gehört. Wenn ich recht verstanden habe, war sie eine ziemlich deftige Frau.«
»Das ist auch so eine höfliche Bezeichnung, die Großmutter nie verwendet hätte. Sie behauptete häufig, sie wäre eigensinnig wie ein Maulesel, nur nicht ganz so gebildet. Wahrscheinlich war sie die reichste Frau von Pittsburgh. Deshalb stand sie trotz ihres schändlichen Benehmens ganz oben auf den Gästelisten der feinen Gesellschaft. Mit diebischem Vergnügen nahm sie die Einladung zu einem supereleganten Wohltätigkeitstee an, zürn Beispiel zugunsten der Witwen von Geistlichen. Sie schrieb einen gewaltigen Scheck aus, machte jedoch zur Bedingung, dass alle Anwesenden vorher etwas für an Syphilis erkrankte Prostituierte oder geschiedene Mütter herausrückten, die wieder aufs College gehen wollten. Sie erkannte das Problem von misshandelten Frauen mindestens eine Generation früher als die Öffentlichkeit und gründete aus eigener Initiative ein Frauenhaus in Süd-Pittsburgh. Das war eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass es zu einer Zeit geschah, als man noch auf dem Standpunkt beharrte, eine Frau gehöre zu ihrem Mann, selbst wenn er sie noch so schlecht behandelte.«
Ben nickte. »Andrew hat mir oft erzählt, was für eine wunderbare, bemerkenswerte Frau sie war. Er liebte sie beinahe ebenso wie du.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten zurückgenommen. Schon die Erwähnung von Andrews Namen vertrieb alles Leuchten und alle Wärme aus Claires Gesicht.
»So, tat er das?«, fragte sie kühl. »Mir ist es immer schwergefallen, Andrews echte Gefühle zu erkennen. Außerdem spielt es keine Rolle, was er für meine Großmutter empfand. Du wolltest wissen, wie ich erfahren habe, dass Andrew nicht mein Vater ist.«
»Das würde ich wirklich gern hören«, stimmte Ben ihr zu.
»Es ist schnell erzählt. Einige Tage vor ihrem Tod ließ Großmutter mich kommen. Sie schickte die Krankenschwester aus dem Zimmer und sagte, sie müsse mir etwas geben. Sie war geistig absolut fit, obwohl sie sehr schwach war und unter entsetzlichen Schmerzen litt. Erst Jahre später begriff ich, dass sie auf ihr Morphium verzichtet haben muss, um einen klaren Kopf für das Gespräch mit mir zu behalten.«
Claire schwieg einen Moment. »Dies hat Großmutter mir damals gegeben«, sagte sie und löste den Verschluss einer Kette, die sie unter ihrem Sweatshirt verborgen trug. »Da, nimm es«, fuhr sie fort und hielt ihm das Schmuckstück hin.
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