Feuerscherben
die Augen zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr zwei Tränen das Gesicht hinabliefen. Wütend wischte sie die Wangen trocken. »Verdammt, der Wodka macht mich betrunken.«
»Es muss sehr schwer für dich gewesen sein, deiner Mutter die Wahrheit zu gestehen«, sagte Dianna, »Sie gehörte einer anderen Generation an und verbrachte ihr ganzes Leben in einer konservativen Kleinstadt. Ich nehme an, dem Geständnis hat ihr ziemlich zu schaffen gemacht.«
»Das ist eine gewaltige Untertreibung«, antwortete Sonya. »Als ich mit meiner kleinen Rede fertig war, schloss Mom einfach die Augen und drehte sich zur Wand. Sie sprach kein einziges Wort mehr mit mir und wies das Krankenhauspersonal an, mich unter keinen Umständen noch einmal in ihr Zimmer zu lassen. Das nächste Mal sah ich sie bei der Beerdigung wieder. Dad betrachtete mich, als wäre ich der letzte Abschaum der Welt. Mein Bruder nahm mich beiseite und schrie mich zwanzig Minuten lang an, weshalb ich so versessen darauf gewesen sei, unserer Mutter meine perversen sexuellen Vorlieben wie auf einem Silbertablett zu präsentieren. Weshalb ich sie nicht in Ruhe hätte sterben lassen. Und meine Schwägerin fügte hinzu, dass ich der Familie und dem Staat Wyoming einen gewaltigen Gefallen täte, wenn ich nie wieder zurückkommen würde. Seitdem hat kein Mitglied meiner Familie mehr mit mir gesprochen.«
Dianna legte die Arme um die Freundin und hielt sie fest. »Das tut mir furchtbar leid, Sonya. Weshalb hast du mir nie davon erzählt? Ich wusste, dass der Tod deiner Mutter dir sehr zugesetzt hatte. Aber ich hatte keine Ahnung, was du sonst noch durchmachen musstest.«
»Manches tut wohl zu sehr weh, als dass man darüber sprechen kann«, antwortete Sonya. Sie griff nach einem Papiertuch und schnauzte sich die Nase. »Gestern ist plötzlich alles bei mir wieder hochgekommen. Im Moment weiß ich nicht einmal, weshalb ich heule. Deinetwegen oder meinetwegen oder wegen Mom. Vielleicht sogar wegen Hal, diesem alten Ekel.«
»Vielleicht weinst du um deinen Bruder und deinen Vater«, schlug Dianna leise vor. »Überleg mal, wie viel sie verloren haben, weil sie dich aus ihrem Leben ausschlossen.«
Sonya schniefte verächtlich. »Das sehen sie garantiert anders, aber trotzdem danke. Du bist wirklich eine gute Freundin. Kann ich bei dir auf dem Sofa übernachten, wenn ich noch einen Wodka trinke?«
»Fühl dich hier wie zu Hause. Gib mir dein Glas, ich schenke nach.« Dianna brachte der Freundin einen weiteren Drink. »Genieß ihn, meine Liebe, denn dies ist der Rest. Es sei denn, wir machen uns anschließend über den Weihnachtsbrandy her.«
»Drei Drinks sollten genügen für einen leichten Schwips. Prost!« Sonya schwieg eine Weile und seufzte tief. »Du bist immer so verständnisvoll, Di. Eigentlich müsstest du jetzt fragen, weshalb ich dir die traurige Geschichte erzählt habe.«
Dianna setzte sich auf das andere Ende des Sofas. »Also gut, weshalb hast du es getan?«
»Weil sie eine Menge mit dir und deinem Feldzug gegen Andrew Campbell zu tun hat.«
Diese Antwort hatte Dianna wirklich nicht erwartet. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid, das verstehe ich nicht. Was hat Andrew damit zu tun?«
Sonya schaute tief in ihr Glas. »Die Erfahrung mit meiner Mutter hat mich gelehrt, dass es den Menschen erlaubt sein muss, ein Geheimnis für sich zu behalten. Nachdem die
Gesellschaft nicht bereit ist, homosexuelles Verhalten zu tolerieren, sollten Schwule und Lesben über ihre Vorlieben schweigen dürfen, wenn sie es wünschen. Ein Geständnis tut der Seele nicht immer gut. Eigentlich müsstest du mir in diesem Punkt zustimmen.«
»Das tue ich auch, solange sich dieses Geheimnis nicht auf etwas Illegales oder Gefährliches bezieht.«
»Alle Geheimnisse sind gefährlich«, erklärte Sonya ungerührt. »Ist dir das nicht längst klar? Wenn du sechzig Millionen Zuschauern in einer Talk-Show gestehst, dass du es mit einem Gorilla getrieben hast, regt sich kein Mensch darüber auf. Schämst du dich jedoch, dass du bei einer wichtigen Prüfung in der Schule gemogelt hast und hältst es geheim, wird dich alle Welt verurteilen, falls die Sache doch ans Licht kommt.«
»Damit hast du vermutlich Recht«, sagte Dianna leise und zerbrach sich den Kopf darüber, was die Freundin ihr wirklich beibringen wollte. »Nun sag schon, Sonya. Spann mich nicht länger auf die Folter. Was hat das mit Andrew Campbell zu tun?«
Sonya stellte ihr Glas so heftig ab,
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